„Wahre Kunst ist eigensinnig, lässt sich nicht in schmeichelnde Formen zwängen“, hat Beethoven 1820 notiert. Vier Jahre später setzt er dieser Aussage mit seiner 9. Sinfonie ein Denkmal. Die Komposition ist eine musikalische Revolution: Beethoven bricht die alten Muster auf, überschreitet Grenzen, wagt erstmals den Einsatz eines Chores in einem sinfonischen Werk und öffnet damit der Romantik Tür und Tor. So ist es keine Überraschung, dass die 9. den Rahmen des diesjährigen Beethovenfestes bildet, das unter dem Motto „Eigensinn“ am vergangenen Freitag offiziell eröffnet worden ist und bis zum 7. Oktober ein Highlight nach dem anderen präsentiert.
Zum Auftakt hatten die Organisatoren des Fests das City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) eingeladen, das zusammen dem CBSO Chorus, einigen Alto-Damen vom London Symphony Orchestra Chorus
sowie vier Solisten eben jenes titanische Opus magnum aufführte, in dem Beethoven all seine Erfahrungen, Ideen und Stile zusammengefasst und auf eine neue Ebene gebracht hat. Der erste Satz
bleibt formal noch klassisch und weckt mit dem ständigen Wechsel zwischen dramatischer Wucht und unschuldiger Zartheit eine Spannung, die das Orchester unter dem sehr emotional dirigierenden
Andris Nelsons in beeindruckender Weise aufzubauen verstand. Im folgenden Scherzo herrscht dann Euphorie und unaufhaltsamer Drang nach vorne vor – hier klingt die Grundstimmung der Französischen
Revolution durch. Dies erzeugt einen enormen Kontrast zum dritten Satz, dem andächtig-lyrischen Adagio, das als Ruhepol der gesamten Sinfonie wirkt. Im überwältigenden Finale werden die
Hauptthemen der ersten drei Sätze noch einmal aufgegriffen, doch von den starken CBSO-Bässen verworfen. Beethoven erfindet sich neu, erst ein frischer Gedanke kann bestehen: Die Ode an die
Freude. Und die bedarf eines Chores. Eines großen. Mehr als hundert Sänger hat das CBSO aufgefahren, eine schwarze Wand aus prächtigen Stimmen, ganz im Schillerschen Sinne gleichberechtigt mit
dem Orchester. Das ist Beethovens Erbe: Das Sehnen nach einer universellen Gemeinschaft der Menschen, die sich nicht von Grenzen oder Regeln aufhalten lässt. Die Kunst macht es vor, eigensinnig
wie sie ist.
Vor der bombastischen 9. Sinfonie kam beim Auftaktkonzert noch ein weiteres Werk zur Aufführung, ein Kleinod der Musikgeschichte und zugleich ein Bekenntnis zur Vergänglichkeit des Schönen:
„Nänie“ von Johannes Brahms, der das Stück zum Gedenken des Malers Anselm Feuerbach komponierte und, ebenso wie Beethoven, auf ein Schiller-Gedicht zurückgriff. Ein unglaublich dichtes,
vielschichtiges Chorstück mit seidenzarten Emotionen. Das CBSO nahm sich dieser Aufgabe mit exzellentem Feingefühl an, vermittelte schon in den ersten Takten Wehmut um die Endlichkeit des Lebens,
ohne dabei von Trauer übermannt zu werden. Ebenso der Einsatz des Chores: perfekt. Leise die Spannung haltend, dann wieder kraftvoll werdend, ohne aber die Töne zu erdrücken, und schließlich
Erlösung in dem Wissen findend, dass das Schöne, wenn schon nicht in einem Körper, so doch in der Kunst zu überleben vermag.
Nach dieser eindrucksvollen Eröffnung des Beethovenfests liegt die Messlatte für die nun täglich überall in Bonn stattfindenden Konzerte hoch. Aber nicht unerreichbar: Vor allem in der
Beethovenhalle geben sich hochkarätige Ensembles und Orchester die Klinke in die Hand. Jedes Konzert verspricht, ein Genuss zu werden – und dennoch versprechen Politiker wie der Bonner
Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch bereits jetzt eine Steigerung des Hörvergnügens: Bis 2020, wenn sich der Geburtstag Beethovens zum 250. Mal jährt, soll in der Rheinaue ein Festspielhaus mit
Weltklasse-Format entstehen. Ein vollmundiges Versprechen, immerhin gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Diskussionen um die Finanzierung des Mammutprojekts. Und so lange noch keine
Baufahrzeuge nahe des Posttowers auffahren, heißt das Ziel der Klassikfans eben weiterhin Beethovenhalle. Geht auch. Wie das CBSO erst jetzt wieder bewiesen hat.
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