Schämen sollte man sich: Für die Verlogenheit in Politik und Gesellschaft, für die Bequemlichkeit der Bürgerschaft, für das Desinteresse an den vielen großen und kleinen Katastrophen, die täglich durch die Medien geistern. Sagt zumindest Hagen Rether und schämt sich in der Bonner Oper stellvertretend für alle Anwesenden. Irgendwer muss es ja tun. Doch ganz so einfach lässt der Pferdeschwänzige das Publikum nicht davonkommen: Es muss den Abend mit ihm durchstehen, sich all die bitteren Wahrheiten anhören, die im ständigen Changieren zwischen Ernsthaftigkeit, Zynismus und Satire in den Blickpunkt gerückt werden – Wahrheiten, die eigentlich jeder kennt, aber kaum jemand wahrhaben will. Rether will das ändern. Und lässt sich dafür fast vier Stunden Zeit.
Besonders die allgegenwärtigen Lügen widern den 43-Jährigen an. Die Kriege für Frauen, Brunnen und Grundschulen; die Waffenexporte des friedliebenden Deutschlands; das Demokratieverständnis in
den USA – Rether regt sich auf, droht dabei aber immer wieder dogmatisch zu werden, nicht klar genug zu differenzieren. Im großen wie im kleinen: Weil Luther und Kant antisemitische Haltungen
einnahmen, verweigert Rether sich dem Begriff der „christlich-jüdischen Tradition“, und weil die Menschen in seinen Augen zu viel Fleisch verzehren, fordert der Vegetarier entsprechende Gesetze,
gar eine Art Ökodiktatur. „Einfach mal etwas weniger“, sagt Rether. Das gilt manchmal auch für Forderungen.
Auf eine grundsätzliche Aussage kommt Hagen Rether immer wieder zurück: Die Deutschen machen sich etwas vor. „Guttenberg haben wir unsere eigene Verlogenheit vorgeworfen, Wulff unsere
Schnäppchenjägermentalität“, sagt der am kaum bespielten Flügel sitzende und Bananen futternde Kabarettist – Politiker als Stellvertreter und Opferlämmer, damit das Volk nicht in den Spiegel
schauen muss. Deshalb verweigert sich Rether auch weitgehend den sonst so beliebten Frontalangriffen, schießt nur gelegentlich gegen die FDP- und SPD-Riege, etwa gegen Steinbrück, den er für
einen „Berlusconi mit Abitur“ hält. Häufiger aber kritisiert er das System, redet sich seinen Frust über die Bananenrepublik Deutschland von der Seele und weiß doch, dass er sich letztlich für
eine Partei entscheiden muss. Auch wenn es eine Wahl zwischen Pest und Cholera ist.
Natürlich geht es in den vier Stunden Schäm-Unterricht nicht nur um Politik. Dafür bewegt Hagen Rether zu viel. Vor allem die Integration von Muslimen ist ihm ein Anliegen. Zugleich versucht er,
eine Erklärung für den erstarkenden Extremismus zu liefern, spricht über die Situation in Somalia oder Afghanistan und über die kolonialistisch anmutende Arroganz, mit der der Westen dort agiert.
Wenn er überhaupt agiert. „Sechs Wochen lang war Somalia vor einem Jahr in den Nachrichten, schreckliche Flüchtlings-Treks, Hunger und Elend ohne Ende – und dann verschwand die Kuh Yvonne, und
keiner sprach mehr über Afrika“, erregt sich Rether. Das Wissen um die humanitäre Katastrophe bleibt folgenlos. „Kein Wunder, dass die Taliban und Al Quaida da an Einfluss gewinnen.“ Berechtigte
Kritik – warum der 43-Jährige später aber fordert, vor der eigenen Haustür zu kehren, statt im Ausland nach Veränderungen zu schreien, erschließt sich nicht so ganz. Das sind dann die paradoxen
Momente im Retherschen Diskurs, jene, die für sich allein genommen Sinn ergeben, nicht aber im Gesamtzusammenhang. So wie die berühmte Tastenklimperei, zu der sich der Kabarettist immerhin
zweimal hinreißen lässt und bei der er zwischen „Ave Maria“, „Blackbird“ sowie Vertonungen von Shakespeare-Sonett und Ingeborg-Bachmann-Lyrik den richtigen Ton, eine musikalische Aussage
vermissen lässt. Kleine Schwächen im System Rether. Auch er, der große Pessimist, ist nicht unfehlbar. Irgendwie beruhigend.
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