Das Chaos herrscht. Eine ältere Dame liest aus einem Roman vor, hinter ihr folgen mehrere Menschen mit herausgerissenen Gelben Seiten ihrem Beispiel. In der Nähe schiebt ein älterer Herr lautstark Stühle über den Steinboden, ein anderer kommentiert dies mit einer Vogelpfeife. Dazwischen schlängelt sich eine Trommelgruppe, marschiert fröhlich und unermüdlich von einer Ecke des Foyers der Bundeskunsthalle zur anderen. Vorbei an zwei Sängerinnen, die durch Zufall aufeinandergetroffen sind und jetzt um die Wette improvisieren, vorbei an Menschen mit Geigen, Saxofonen, Rasseln, Flaschen und was auch sonst noch Geräusche zu machen vermag. Jeder spielt seine eigene Melodie, hat seinen eigenen Rhythmus, flaniert durch den Raum und schafft so den „Musicircus“ von John Cage von Sekunde zu Sekunde neu. Es ist das Gefühl völliger Freiheit – tu, was du willst. Ein fantastisches Finale der John-Cage-Nacht, die im Rahmen des Beethovenfests Bonn zu Ehren des 100. Geburtstags des Komponisten auf der Museumsmeile zelebriert wurde.
Der Musik John Cages zu lauschen, ist eine Herausforderung der besonderen Art: Harmonien, Motive, Melodien sucht der Zuhörer vergebens. Für Cage unnötige, einengende Restriktionen, die er mit
Wucht zertrümmerte, dem Zufall den Taktstock überreichte und damit die Vorstellung dessen, was Musik überhaupt sein kann, radikaler umwälzte als irgendein anderer Komponist vor oder nach ihm.
Jeder Ton soll frei und gleichberechtigt sein. Und so quietschen die Geigen und Celli der diversen Ensembles mindestens ebenso oft wie sie klingen oder bieten der Stille einen Platz im Konzert,
die für Cage ohnehin eine besondere Bedeutung hatte. Sein berühmtestes Stück „4'33''“, im Rahmen der Cage-Nacht von einer Solo-Posaune gespielt, besteht aus drei Sätzen voller Pausen – das
Publikum spielt die Musik, atmet, hustet, scharrt, lebt. „Etwas geschieht immer, das einen Klang erzeugt“, argumentierte Cage. Umso bedauerlicher, dass etwa im Haus der Geschichte zu hören war
„Sie können jetzt nicht rausgehen – das stört das Konzert.“ Cage wäre entsetzt gewesen.
Nicht nur die Werke des Grenzenbrechers kommen bei der Cage-Nacht zur Aufführung, auch Klassiker wie Brahms, Beethoven oder der von Cage verehrte Erik Satie kommen zur Geltung, ebenso wie weitere
Vertreter der Neuen Musik. Ein Konzert widmet sich ganz dem zunächst engen Freund und späteren Widersacher Cages, Pierre Boulez, der die Determination zum Mittelpunkt seines Schaffens erkor,
mittels mathematischer Reihen komponierte. Anstrengend sind diese Stücke aufgrund der ihnen inneliegenden Dissonanz auch; einige Schüler, die unvorbereitet in dieses musikalische Haifischbecken
geworfen wurden, haben nach wenigen Minuten genug. Vorwerfen kann man das ihnen nicht, immerhin ist die Auseinandersetzung mit Boulez oder Cage das mentale Äquivalent zu einem
42-Kilometer-Querfeldeinlauf. Doch irgendwann, fast unmerklich, verändert sich etwas – irgendwie erwächst im Laufe der fünfstündigen Marathon-Veranstaltung so langsam Verständnis für diese Art
von Musik. Sowohl John Cages „The Seasons“ als auch die Stücke des Arnold Schönbergs Zwölftonmusik vorwegnehmenden Josef Matthias Hauer wirken plötzlich angenehm, erinnern an eine skurrile, aber
interessante Stummfilmbegleitung.
Zum Schluss dann der große Musicircus – und die Offenbarung der Freiheit, die sich hinter dem Cage-Konzept verbirgt und die während der Konzerte leider nur bedingt zu Tage trat. Geschlossene
Türen und Ausgangssperren statt freiem Flanieren von einem Aufführungsort zum anderen, die Abschottung der einzelnen Klangwelten voneinander: Nicht gerade das, was Cage erreichen wollte.
Wenigstens im Bonner Kunstmuseum war aber ein leiser Wechsel von einem Raum zum anderen möglich. Eine Vorwegnahme des Musicircus: Nur wer sich bewegt und mit jedem Schritt ein neues Zusammenspiel
der Myriaden von Tönen vernimmt, erfährt John Cage am eigenen Leib. Und hat es geschafft: Zieleinlauf. Marathon vorbei. Ein gutes Gefühl.
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