Der erste Blick fällt auf Tom Gerhardts beleuchtetes, graugekleidetes Hinterteil. Mehr ist auf der dunklen Bühne zu Beginn von dessen neuem Programm „Nackt und in Farbe“ nicht zu sehen, solange sein Alter Ego Dieter Krause nicht wieder das Licht einschaltet. Könnte ein Warnsignal sein. Doch schließlich ist der Pleiten-Pech-und-Pannen-Hausmeister erfolgreich – und zunächst hat es den Anschein, als wäre dies ein Fehler gewesen. Denn sowohl Gerhardt als auch Detlev Redinger als Dauerstotterer und Napfwart Herbert wirken in den Rollen, die sie seit Jahren verkörpern, ziemlich steif, die Probe zur Karnevalsansprache des Dackelclubs, die noch schnell vor Beginn der Casting-Show-Aufzeichnung über die Bühne gebracht werden muss, gerät zur Farce.
Dann der erste Kostümwechsel, frische Gerhardt-Gestalten und eine langsame Steigerung. Saal-Animateur Andy erklärt dem Saal das Konzept: Bei „Nackt und in Farbe“ geht es um „voll extreme
Liebesbekenntnisse“, um die Mutter aller Peinlichkeiten. Oder wie Krause, die die 300.000 Euro Preisgeld gerne sein eigen nennen möchte und dafür auf die Mithilfe von Herbert setzt, es auf den
Punkt bringt: „Von den ganzen Perversen hier musst du einfach der Schlimmste sein“. Also schön den Ball und das Niveau flach halten. Doch die Konkurrenz ist stark: Da ist die Kampf-Transe Tanja
Tropicana, die sich (leider zu Vollplayback) singend erst die Brustimplantate und dann die Klamotten vom Leib reißt; ein ejakulierender Riesenpenis aus Italien; Toiletten-Terrorist Muhammar; und
ein ebenfalls strippender, zaubernder, voll gestörter Riesenwindelträger. Eben die ganz normale Ansammlung von Supertalenten, die in so einer Menagerie des Grauens zu erwarten waren und die vom
Publikum begeistert begrüßt werden. Das Casting-Show-Konzept geht auf, obwohl dieser TV-Wahnsinn auch als Parodie weder geschmackvoller noch erträglicher wird.
Doch zwischen all den Trauergestalten, die Gerhardt mit großem Kostümierungselan darzustellen weiß, finden sich auch einige echte Highlights. Etwa Baulöwe Eugen Fritsche, der menschen- und
teleäffchenverachtend mit seinem Reichtum protzt und bei dem Gerhardt tatsächlich mal Ansätze einer tiefergehenden Gesellschaftskritik entdecken lässt. Oder die 160-Kilo-Taxifahrerin Tina, die
von den allgemein Models genannten „modebehangenen Röntgenbildern“ in ihrem Auto erzählt und zu dem Schluss kommt, dass das Schöne im Leben oft in einem hässlichen Haufen verpackt ist. Und
schließlich ein Aggro-Mietsweihnachtsmann, der sich über die „wir verstehen ja alles“-Pussy-Gesellschaft aufregt und eine freche Göre einfach mal aus dem Fenster im 15. Stock hält, da die Eltern
offenbar in der Erziehung gepatzt haben. Das sind Momente, in denen Tom Gerhardt wirklich brilliert. Nicht in der Darstellung von ohnehin schon völlig überzeichneten Casting-Mutanten, sondern in
der gnadenlosen Parodie von mehr oder weniger normalen Menschen.
Eine grundsätzliche Schwäche dieses an Charakteren äußerst vielfältigen Programms ist allerdings das auf Gerhardts Verwandlungskünste reduzierte Skript. Während dieser von einer Rolle in die
nächste schlüpft, geschieht auf der Bühne oft nichts, sofern Redinger nicht gerade seine Tanzkünste unter Beweis stellt. Hier hätte durchaus eine Entwicklung von Herbert stattfinden können, der
immerhin Carmen seine Liebe gestehen will. Wozu es letztlich nicht kommt. Das Programm endet unvermittelt, ohne die Rahmenhandlung zum Abschluss zu bringen. Und das letzte Bild zeigt einmal mehr
Tom Gerhardts Hintern. Diesmal nackt. Und in Farbe.
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