Wenn gar nichts mehr passt, geht „Independant“. Dieses Label der Postmoderne, unter dem häufig alle Musiker zusammengefasst werden, die sich einer eindeutigen Kategorisierung verweigern, ist inzwischen nur noch eine begrifflich fragwürdige Notlösung, die große Bodenschublade in der ansonsten mit vielen kleinen Fächern bestückten Musikkommode. Doch im Falle des zweiten Crossroads-Abends in der Harmonie reichte auch das nicht aus. Denn sowohl Brother & Bones als auch in noch viel stärkerem Maße Get Well Soon lassen sich nicht einordnen, sprengen alle Register, sind gewissermaßen schon post-alternativ – und begeisterten damit das Publikum bis zur letzten Sekunde.
Dabei sind zumindest Brother & Bones noch einigermaßen begreifbar. Als Indie-Folk-Band werden sie in Großbritannien oft gehandelt, was den rockig-knackigen Gitarrenriffs und den beiden
dynamisch treibenden Schlagzeugen nicht so ganz gerecht wird. Einige erkennen Elemente von Mumford & Sons und Dead Weather, genau so gut könnte man aber auch von einer Verwandtschaft mit
Calexico sprechen, wenn auch ohne Mariachi-Klänge. Und letztlich hilft all das nur bedingt weiter, gibt jeweils nur eine Facette dieses Musik-Diamanten wieder. In der Harmonie hat das Quintett
aus Cornwall auf jeden Fall zu überzeugen gewusst. Die charmant-raue Stimme von Rich Thomas, der beinahe beiläufig schöne und zugleich kraftvolle Melodien auf einer uralten, völlig
verschrammelten Akustik-Gitarre spielte, zog die Menge schnell in seinen Bann; dazu diese beeindruckende Dynamik, immer nach vorne preschend, doch nie drängelnd, nie hetzend, nie übersteigert,
sondern immer kontrolliert und den Songs einen besonderen Drive gebend: Ob eher ruhige Titel wie „For all we know“ und die wunderschöne Ballade „Skin & Bones“, kraftvoll-erdige Rocknummern
wie „Hold me like the sun“ oder das vorwärts drängende „Back to shore“, bei dem das Rhythmus-Duo Yiannis Sachinis und Robin Howell-Sprent glänzen konnte.
Und dann, nach einer immerhin 45-minütigen Umbaupause, kam Get well soon – und alle Einordnungsversuche versagten. War Brother & Bones ein Diamant, so war dies nun ein Brillant, geschliffen
und poliert. Das Musikprojekt von Mastermind Konstantin Gropper bot ein Konglomerat komplexer Konzeptsongs voller stilistischer Anspielungen und einem dennoch einzigartigen, oft orchestralen
Gesamtklang, für den die Co-Musiker immer wieder zu anderen Instrumenten griffen, hier eine Posaune oder Trompete erklingen ließen, dort eine Geige einsetzten, Zimbeln hervorholten oder ein
Harmonium bedienten. Alles generalstabsmäßig durchstrukturiert und meisterhaft in Szene gesetzt. Dazu kam das musische Äquivalent zur Intertextualität: Vor allem in den Songs des aktuellen Albums
„The Scarlet Beast O'Seven Heads“ wimmelte es von Reminiszenzen an David Bowie, Depeche Mode, A-ha und vielen weiteren Pop-Bezügen, aber nicht minder von Morricone-Zitaten und anderen
Filmmusik-Elementen, die eine Leidenschaft von Gropper zu sein scheinen. Nicht umsonst ist ein Lied Roland Emmerich und eins Werner Herzog gewidmet, zwei deutschen Regisseuren, die es bis nach
Hollywood geschafft haben. Der Durchbruch gelingt Gropper sicherlich auch noch – in der Harmonie hat er zumindest einen der denkwürdigsten Abende seit langem perfektioniert.
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