Schräg, schwirrend, sphärisch: Mit Jörg Widmanns „Armonica“ bildete eine sehr ungewöhnliche Komposition den Auftakt des diesjährigen Beethovenfests in Bonn. Das Werk, das die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Kent Nagano in der ausverkauften Beethovenhalle spielte, erinnerte in weiten Teilen eher an die Hintergrundmusik eines Horrorfilms, der stetig atmende Klangkörper des Orchesters ein in den Schatten verborgener Koloss. Doch bei aller harmonischer Modernität hat Widmann vor allem mit dem Rückgriff auf eine Glasharmonika (gespielt von Christa Schönfeldinger) bewusst Bezug auf die Klassik genommen: Das heute exotisch wirkende Instrument war im 18. Jahrhundert sehr beliebt, Mozart selbst hat dafür ein Quintett und ein Solostück komponiert, ähnlich wie Hector Berlioz, Carl Maria von Weber und Camille Saint-Saëns.
Dies transformiert Widmann nun, lässt Streicher und Bläser zu Versatzstücken einer übergeordneten, gewissermaßen transzendenten Glasharmonika werden, baut Klangfelder voller beeindruckender
Dynamik auf, die immer weiter anschwellen, nur um dann wieder in sich zusammenzufallen. Ein beeindruckendes, wenn auch nicht sofort zugängliches Werk, das als Metamorphose früherer Faszination
für ein heute fast vergessenes Instrument dem Motto dieses Beethovenfests, „Verwandlungen“, durchaus gerecht wurde. So gab es denn auch kräftigen Applaus – nur ein Zuhörer zeigte mit kräftigen
Buh-Rufen gegen den Komponisten sein Missfallen über diesen modernen Ansatz.
Diese verstummten allerdings schnell, als Widmann zur Klarinette griff und zu Mozarts berühmten Konzert für dieses Instrument (KV 622) ansetzte, das erst im 18. Jahrhundert aus dem barocken
Chalumeau entwickelt wurde. Auch das eine Art von Metamorphose. Immer wieder tänzelnd zeigte Widmann mit viel Gefühl die vielfältigen Möglichkeiten dieses Holzbläsers, während Nagano die
Kammerphilharmonie äußerst dynamisch führte. Wunderschön der weltbekannte zweite Satz, das Adagio in D-Dur: genussvoll, verträumt, weich, mit einem herausragenden Klarinettisten, der allerdings
im finalen dritten Rondo-Satz etwas abfiel. Dennoch war selbst jener Teil des Publikums, das sich mit der „Armonica“ schwer getan hatte, zur Pause wieder mit dem Konzert versöhnt.
Die abschließende Verwandlung des Abends zeigte sich in einer kontinuierlichen Abfolge von Variationen. Bei der vierten Symphonie von Johannes Brahms, der das Erbe Beethovens fortführen wollte
und neue Inhalte in alte Formen goss, blühte die Bremer Kammerphilharmonie erst so richtig auf. Mächtig die Streicher, strahlend die Bläser, konsequent das Schlagwerk. Nagano gelang es dabei,
über alle Sätze hinweg einen riesigen Bogen zu schlagen, von den an Herbstblätter erinnernden, sich ständig ändernden fallenden Terzen zu Beginn über den festlich-opulenten Trubel im dritten Satz
bis hin zum Cantus Firmus am relativ schroffen, melancholischen Ende. So standen die einzelnen Teile nicht etwa für sich, sondern als Einheit, als ineinander verzahnte, zusammengehörige Aspekte
eines übergeordneten Gedankens. Eine Meisterleistung, mit der sich das Orchester auch bei Ilona Schmiel bedankte, die als Intendantin zehn Jahre lang die Geschicke des Beethovenfests geleitet und
dabei unter anderem immer wieder auf die Bremer zurückgegriffen hat. Bleibt zu hoffen, dass ihre Nachfolgerin Nike Wagner an dieser Tradition festhält.
Kommentar schreiben