Schon am Eingang des Saals der Brotfabrik wartet das weiße Kaninchen, begrüßt die Zuschauer in seinem Bau, der sie wie Alice ins Wunderland führen soll. Und schon dort dürfte es dem ein oder anderen äußerst ungemütlich werden. Denn aus dem hektischen, aber liebenswerten Disney-Zeitgenossen ist ein krankhaft hyperaktives, sich wie ein auf einer Entziehungskur befindlicher Mensch ständig kratzendes kalkfarbenes Gespenst geworden – die dunkle Version eines jener skurrilen Geschöpfe, mit denen Lewis Carroll seit 150 Jahren Kinder und Erwachsene gleichermaßen in seinen Bann zieht. Und es bleibt nicht das einzige.
In der mutigen Inszenierung von „Alices' Adventures in Wonderland“ der Bonn University Shakespeare Company, die die beiden Jungregisseurinnen Christine Eßling und Anthea Petermann realisierten
und die am vergangenen Donnerstag Premiere hatte, wimmelt es nur so von gebrochenen Gestalten. Neben dem herrlich psychotischen Kaninchen (Christine Lehnen) unter anderem die äußerst aggressive,
mit Schlafmitteln ruhig gestellte Dormouse (Daniella Boyd), der zugedröhnte Caterpillar (Benedikt Kunz), die von Herrschafts- und Tötungsphantasien besessene Herzkönigin im Rocky-Horror-Outfit
(Ronald de la Cruz mit sichtlicher Leidenschaft an der gelungenen Trash-Parodie) und der ebenso charismatische wie augenscheinlich völlig psychotische Hutmacher (genial: Valentin Scholz). Allen
voran trotzt die unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidende Alice mit ihren drei sich gerne bekämpfenden Verkörperungen (Muna Zubedi, Johannes Neubert und Elisabeth Lewerenz –
gewissermaßen das schüchterne Ich, das ruppige Es und das erzählend-reflektierende Über-Ich) den Tücken des Wunderlands. Freud wäre begeistert.
Die BUSC ist mit dieser Produktion 21 Jahre nach ihrer Gründung ein großes Wagnis eingegangen: Ihre recht freie Interpretation der Carrollschen Charaktere und das düstere Setting gehen weit über
die sonst üblichen Spielräume hinaus, die die Theatergruppe etwa bei Shakespeare-Stücken zulässt. Zudem ist „Alice in Wonderland“ als Vorlage für eine Bühnenfassung ohnehin eine Herausforderung,
da allein die Hauptfigur ständig ihre Größe wechselt und von einem Ort zum anderen wandert. Tatsächlich zeigen sich in diesem Bereich die größten Schwächen der Produktion, hier gerät das Ensemble
an die Grenzen des Möglichen. Die minimalistische Bühne und fehlende Technik können nur mühsam die Magie des Wunderlandes vermitteln. Vor allem in der ersten Hälfte kommt so Verwirrung auf, zumal
durch die Hektik und das Gezanke der drei Hauptdarsteller manches erklärende Wort verloren geht. Andererseits liefert das Ensemble mit den Kostümen und dem Make-Up unter der Leitung von Christine
Eßling eine Meisterleistung ab – und die schauspielerische Leistung aller Beteiligten ist ohnehin bemerkenswert. Neben den Darstellern von Kaninchen, Hutmacher, Caterpillar und Dormouse sind
dabei vor allem Josefine Panten als Grinsekatze („Cheshire Cat“) und Tracy Tollmann als wunderbar exzentrische, schrille Herzogin zu erwähnen. Und so zieht es einen letztlich doch hinein in
dieses verzerrt-verschrobene Wunder- oder Alptraumland, wo es manchmal sogar von Vorteil ist, mehr als eine Person zu sein.
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