Was wäre, wenn – eine der beliebtesten Fragen überhaupt. Und eine gute. Auch oder gerade weil sie manchmal äußerst skurrile Antworten fordert. So wie in dem Stück „Helmut Kohl läuft durch Bonn“, das am vergangenen Mittwoch in der Werkstatt des Theaters Bonn uraufgeführt wurde: Eine von Absurditäten nur so strotzende Collage alternativer Geschichten über den Einheitskanzler, gespickt mit Banalitäten, Verdrehungen und Anekdoten. Von historischer Korrektheit kann hier keine Rede sein, doch das entspricht auch nicht der Intention des Autorenduos Michel Decar und Jakob Nolte.
„Wir wollen die Wirklichkeit ja nicht darstellen wie sie ist, sondern wie sie nicht ist. Oder wie sie sein könnte, oder sein müsste“, schreiben sie im Programmheft. Das wiederum gelingt ihnen
meisterhaft. In einer anarchischen Aneinanderreihung von (Un-)Möglichkeiten, in ihrer Konzeption die mit dem Intendantenwechsel ausgelaufene „Nachtwerk“-Reihe aufgreifend, skizzieren sie das
Leben eines Mannes, der sich vom kommunistischen Gedankengut beflügelt von seiner adeligen Familie lossagt und/oder die tanzende Nonne Hannelore aus ihrem religiösen Serail entführt und/oder von
dieser schließlich zum Christdemokraten umdoktriniert wird und/oder sogar zu Gunsten der eigenen Wählbarkeit vom Vegetarier zum Saumagenverzehrer umschwenkt. Wichtig: „Oder“ als zentrales Wort
für den imaginären Variantenreichtum, der schon in der immer wieder in den Saal gerufenen Alternativtiteln sichtbar werden. Hätte ja so sein können, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür ebenso
groß sein dürfte wie die, das Helmut Schmidt noch mit dem Rauchen aufhört.
Der paffende Altkanzler hat übrigens ebenso seinen Auftritt in dieser fragmentierten Satire wie Hans Dietrich Genscher, Franz Josef Strauß, Gerhard Schröder, Jean-Paul Sartre, Fidel Castro und
Putzfrau Wilhelmine. Warum auch immer. Für die sechs Schauspieler auf der Bühne ist der permanente Wandel auf jeden Fall Pflicht, was gerade durch den teilweise recht anspruchsvollen Text nicht
gerade erleichtert wird. Die schauspielerische Leistung ist dabei aller Ehren wert: Mareike Hein sorgt vor allem als hochbegabte Reinigungsfachkraft für Begeisterung, während ihre Kollegin Julia
Keiling sich im Habit sinnlich zu „Like a Prayer“ räkelt. Unter den Männern gibt Bernd Braun am ehesten noch das bedächtig-ernsthafte, aber auch verschlagene Korrektiv, während Samuel Braun,
Sören Wunderlich und Robert Höller (letzterer als Kim Il-Sung unglaublich komisch) sich mit viel Elan in Kohl und seine Erben hineinversetzen, im Kanzlerduell Gin vs. Korn (beziehungsweise
Schröder gegen Kohl) „Dinner for One“ zitieren und sich schließlich sogar zu einer wilden Eierschlacht hinreißen lassen.
Gerade aufgrund des hohen Trash-Gehalts ist „Helmut Kohl läuft durch Bonn“ kein Stück für konservative Theatergänger, langjährige CDU-Wähler oder Leute, die einst ein Poster des Kanzlers über dem
Bett hängen hatten. Zu sehr besteht die Gefahr, die Satire auf der Bühne zu ernst zu nehmen. Tatsächlich wirken einige wenige Szenen unnötig albern und aussagelos – weitgehend gelingt es dem
Autorenduo und Regisseur Markus Heinzelmann aber, Helmut Kohl trotz aller Parodie nicht mehr vorzuführen als zahlreiche Kabarettisten in den 80er und 90er Jahren. Dafür ist das vor Anspielungen
sprühende Stück äußerst unterhaltsam. Wenn man sich darauf einlassen kann.
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