Robotertänze, Zukunftsvisionen und Diskurse über Künstlichkeit und Menschlichkeit: Science-Fiction-Klassiker erfreuen sich derzeit am Theater Bonn großer Beliebtheit. Nach einer exquisiten Umsetzung von Fritz Langs „Metropolis“ hat in der Schauspielhalle in Beuel nun eine Bühnenfassung von Rainer Werner Fassbinders Film-Zweiteiler „Welt am Draht“ Premiere gefeiert, die die Realität – oder das, was wir als solche wahrnehmen – in Frage stellt. Beziehungsweise zu stellen versucht. Denn inmitten der teils verstörenden, teils grotesken Inszenierung des Regie-Duos Mirja Biel und Joerg Zboralski bleibt für ein Eintauchen in die philosophischen Aspekte dieser modernen Variante von Platons Höhlengleichnis kaum Zeit. Stattdessen liegt der Fokus auf der zunehmenden Verzweiflung des Protagonisten Fred Stiller, der beim Versuch der Unterscheidung zwischen Simulation und Wirklichkeit in einer immer hektischer und abstruser werdenden Welt an den Rand des Wahnsinns gelangt. Und sich schließlich nicht einmal über sich selbst im Klaren ist.
Stiller, technischer Leiter des „Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung“ und damit verantwortlich für eine gigantische Computersimulation, in der 10.000 Individuen sich für echte Menschen
halten und deren Beobachtung gesellschaftliche Entwicklungen vorhersagbar machen soll, gelangt bei den Nachforschungen zum Tod seines Vorgängers und Mentors Henri Vollmer zu einem schrecklichen
Verdacht: So wie er die digitalen Figuren in seinem Computer kontrollieren kann, ohne dass diese etwas davon ahnen und sich in der Realität wähnen, manipuliert auch jemand ihn, ist er Spieler und
Gespielter zugleich. Mehr und mehr bemerkt der erwachte homo digitalis Fehler und Auffälligkeiten in der Programmierung seiner Umgebung – und kann doch nur selten das interne Korrekturprogramm
der eigenen Simulation austricksen, während das Publikum sich über Rollschuh fahrende Servicekräfte in Pinguinkostümen, spontan tanzende oder lachende Charaktere und Satzschleifen mal wundert und
mal amüsiert. /dance, /laugh, /repeat – alles ist Programm.
Der zunehmenden Verwirrung und Verzweiflung Stillers verleiht Daniel Breitfelder mit schauspielerischer Brillanz Ausdruck – seine Figur ist allerdings auch die ausdifferenzierteste, komplexeste
des gesamten Stücks. Nicht minder großartig agiert Robert Höller als Stillers Kollege Fritz Walfang, der mit charmantem Berliner Akzent den leidenschaftlich-liebenswerten Geek mimt. Sehenswert
auch Mareike Hein als blonde Sexbombe Gloria Fromm, Benjamin Berger als der schmierig-glatte Hans Edelkern und Samuel Braun als leicht buckliger Inspektor und aufdringlicher Journalist. Einer
mehr oder minder gelungenen Programmierung geschuldete Klischeefiguren, aber doch mit einer gewissen Überzeugungskraft. Dagegen hat es Laura Sundermann als Eva Vollmer schwer: Sie, die sich als
einzige „echte“ Figur entpuppt, bleibt trotz ihrer Liebeserklärung für das Konstrukt Fred Stiller am stärksten in der Künstlichkeit behaftet; die Emotionen der Pixelgeschöpfe wirken realer als
ihre eigenen. Womit sich wieder die Frage nach einer Definition von Wirklichkeit, Leben und Identität stellt. Cogito ergo sum? Möglich. Doch dann folgt sogleich die nächste Frage: Was ist Denken?
Und was Programmierung?
Die Bonner Inszenierung von „Welt am Draht“ schöpft in ihren knapp zwei Stunden viel Potenzial aus, nutzt ausgiebig und effektiv Videotechnik, um George Orwells Big Brother ebenso mitzudenken wie
Will Wrights Sims, schneidet existenzielle Fragen an und lässt sogleich Absurdes folgen, das ohne Kenntnis der Vorlage allerdings nur schwer zu verstehen ist (an dieser Stelle übrigens ein großes
Lob für Julia Keiling, die drei Mal mit exzellenten Gesangsauftritten in fantastischen Kostümen zu überzeugen wusste). Nur eines fehlt: Tiefe, echte Gefühle, die eine Identifizierung des
Publikums mit den Charakteren ermöglichen. Aber vielleicht lässt eine technisierte „Welt der verlorenen Utopien“ gerade das nicht mehr zu.
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