„Die Möwe“: Die große Angst vor der neuen Form

Eine überzeichnete Boulevard-Komödie, grell, aufgesetzt, in einer „Melrose Place“-Wohnanlage situiert. Darin die übliche Baggage: Depressiver, suizidaler Sohn, sich im Glanz vergangener Erfolge sonnende Mutter, junge Unschuld vom Lande, unglücklich Liebende und so weiter. Also alles ganz banal? Mitnichten. Denn unter der Oberfläche lauert ein dunkles Moor der Verzweiflung, nur notdürftig übertüncht und immer wieder zum Vorschein kommend. Tragik trotz oder gerade wegen zahlreicher Lacher. Ein interessanter Ansatz für Anton Tschechows Stück „Die Möwe“, das am vergangenen Freitag in den Kammerspielen Bad Godesberg seine umjubelte Premiere feiern konnte.

Regisseur Sebastian Kreyer hat dem niederschmetternden Duktus, der Tschechows Stück (er selbst wollte es immer als Komödie verstanden wissen) schon zu Lebzeiten des russischen Dramatikers geprägt hat, den Kampf angesagt. Das funktioniert erstaunlich gut, nicht zuletzt dank eines insgesamt hervorragend agierenden Ensembles, das den Figuren eine beachtliche Tiefe verleiht. So ist die im Zentrum des als riesige Rückblende inszenierten Werks stehende Arkadina (Sophie Basse), einst gefeierte Schauspielerin in „Bernhard und Bianca“ (nur eine von zahlreichen Popkultur-Anspielungen), eine in die Jahre gekommene, in ihrer Lebensrolle gefangene Egozentrikerin, die ihre Sorgen und Ängste hinter Klamauk versteckt und nur in einigen seltenen Momenten ihre wahren Gefühle durchscheinen lässt. Es ist eine Gestalt, die ihre gesamte Existenz der Kunst untergeordnet hat, sich durch sie definiert und daher mit der trockenen Realität nicht zurechtkommt – ein Charakterzug, den sie mit vielen der anderen teilt. Ihr um ihre Gunst ringende Sohn, der angehende Dramatiker Kostja (herrlich komplex: Jonas Minthe), verzweifelt an der Suche nach einer neuen Form, ihr Liebhaber Trigorin (Benjamin Grüter) an der ihn nährenden alten.

 

Letzteres ist populär weil bewährt, bekannt, beliebt, ersteres das Schreckgespenst einer Gesellschaft, die sich dem Slapstick verschrieben hat. Oder doch eher der Groteske. Denn letztlich leben und lieben alle falsch: Kostja verzehrt sich nach der jungen Nina (Maya Haddad), die sich für den berühmten Trigorin interessiert. Polina (Ursula Grossenbacher), die Ehefrau des Verwalters Schamrajew (Wolfgang Rüter) – einem Grobian mit einer Leidenschaft für unbekannte Schauspieler längst vergangener Tage –, hofft derweil vergeblich auf eine Zukunft in den Armen des festgefahrenen Arztes Dorn (leider etwas zu leise: Andrej Kaminsky). Ihre Tochter Mascha (die wunderbare Mackie Heilmann, die schon in „Peter Pan“ als Smee für einen Lichtblick sorgte und von der man gerne noch weitaus mehr sehen würde) hat sich wiederum unsterblich in Kostja verliebt und begnügt sich schließlich, weil dieser unnahbar ist, mit dem armen Lehrer Medwedenko (Maik Solbach). Und Onkel Sorin (Glenn Goltz), der durchaus brauchbare literarische Ideen hat (die denen Tschechows erstaunlich ähneln), früher selbst schreiben wollte und inzwischen resigniert hat? Kriegt schon grundsätzlich nicht, was er will.

Dieser Reigen der sich beständig Selbsttäuschenden hat durchaus eine gewisse Tragik, der das Ensemble auch immer wieder Raum bietet, sie aber noch häufiger mit jeder Menge Witz maskiert. Dabei übertreibt Regisseur Kreyer es zwar an manchen Stellen ein wenig, häuft ein paar zu viele Plattitüden auf und setzt die sonst so gelungene Balance aufs Spiel – insgesamt überzeugt die Inszenierung allerdings durch oft überraschende Ideen und lakonische Pointen. Tschechows schon oft zerschossene „Möwe“ kann hier wieder fliegen. Eine bemerkenswerte Leistung.

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