Die Welt ist in Schieflage. Gekippt um 35 Grad. Permanent besteht die Gefahr des Abrutschens, runter in die Depression, die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit. Vier Seelen, die auch lediglich Facetten einer einzigen sein können, agieren in der Euro-Theater-Central-Inszenierung von Sarah Kanes „Gier“ (Regie: Stefan Herrmann) aus dieser verfahrenen Situation heraus: Auf der schrägen Bühne skizzieren sie ihre Begierden und Sehnsüchte, ihre Ängste und Traumata. Ihre fragmentarischen Aussagen ergänzen sich zu einem rhythmisch geprägten Sprech-Konzert, einer eindringlichen Collage über Sex, Sucht und Sorgen. Sie sind gemeinsam einsam und verzehren sich nach etwas, das die innere Leere zu füllen vermag, bis sie am Ende in ein Licht eintreten, das sowohl Tod als auch Hoffnung gewähren kann.
Schon bei der offenen Probe zwei Tage vor der Premiere am heutigen Abend ist die Intensität beinahe greifbar. Sandra Pohl, Julie Stark, Lucas Sanchez und Simeon J. Wutte harmonieren hervorragend
miteinander, Timing und Tempo sind erstklassig. Eine Stunde lang werfen sie sich Schlüsselworte zu: „Was willst du? Sterben! Schlafen! Nichts!“ Dazu die andauernde Suche nach sich selbst und nach
anderen, vor allem jenen, auf die man seine Liebe projizieren kann. Doch selbst dieses Gefühl wird bei Kane zu einer Droge, nach der man giert und die doch keine Erfüllung bietet. Das permanente
Pulsieren zwischen Scham und Schuld, zwischen der Opfer- und der Täterrolle dominiert jede der namenlosen Figuren. Von Gleichgewicht keine Spur. Ganz im Gegenteil: Gegen Ende knüpft sich jeder
seine eigene Schlinge, sucht den Ausweg im Suizid und findet – ob im Tod oder im Leben, das wird nicht so ganz klar – letztlich zu sich und den anderen.
Sarah Kane, die sich 1999 mit 28 Jahren das Leben nahm, hat „Gier“ einmal ihren verzweifeltsten Text genannt, gerade weil darin – im Gegensatz zu ihren anderen Werken – körperliche Gewalt nicht
gezeigt wird. Doch das Kopfkino sorgt automatisch für die entsprechenden Bilder, suggeriert, was gewesen sein könnte und füllt die Fragmente mit Assoziationen. Somit ist das Stück sowohl für das
Ensemble als auch für die Zuschauer eine Herausforderung – aber eine, die sich lohnt.
Kommentar schreiben