Kraftvolle Sängerinnen gibt es viele. Soulig-sanfte ebenfalls. Doch nur wenige können die beiden Seiten adäquat verbinden, können kratzig-rauen Rock n' Roll ebenso singen wie R'n'B-Balladen und dabei authentisch wirken. Wanda Jackson ist dieses Kunststück gelungen, Tina Turner auch – und jetzt steht auf der Bühne der Harmonie ein weiteres zierliches Energiebündel namens Nikki Hill und macht sich daran, dieses Erbe weiterzutragen. Die mitunter bereits als neue Queen of Rock n' Roll titulierte Powerfrau zeigt sich bei dem Abschlusskonzert ihrer Deutschlandtournee ungeheuer wandlungsfähig, ist Südstaaten-Feuerball, Blues-Wirbelwind und Rock-Gewitterwolke in Personalunion und überrascht das Publikum ein ums andere Mal mit einer neuen Facette ihrer Diamant-Stimme.
Nikki Hill kann, so scheint es, nahezu alles singen. Neben ihren Eigenkompositionen greift sie zu Cover-Versionen von Little Richard, Chuck Berry und Otis Redding, jubiliert in einem
Tex-Mex-Calypso, röhrt in bester John-Lee-Hooker-Manier in einem schwermütigen Blues, lässt Einflüsse der frühen Stones erkennen und wechselt dann mühelos zu samtigem Soul. Großartig. Und doch
hat man den Eindruck, dass sie noch mehr kann – wenn denn nur die Band ihr die Tür öffnen würde. Diese stößt nämlich bei dem stilistischen Abwechslungsreichtum von Zeit zu Zeit an ihre
technischen Grenzen. Drummer Charles Jones und Bassist Ed Strohsahl wagen nur selten Experimente, bleiben lieber schlicht, sorgen aber immerhin für ein solides Fundament, auf das Nikki Hill und
ihr Ehemann Matt an der Gitarre bauen können. Letzterer nutzt die Freiräume immer wieder gerne für Soli, die zwar sauber und solide gespielt werden, viel zu oft aber in den selben vorgefertigten
Mustern münden. Die Vorliebe für Chuck-Berry-Licks ist unüberhörbar – bei „Sweet Little Rock and Roller“ ist das ja noch angemessen, irgendwann wird es aber doch eintönig. Ein bisschen mehr
künstlerische Kreativität wäre hier ganz hilfreich, ein bisschen mehr Vielfalt, um der grandiosen Stimme Nikki Hills vollends gerecht zu werden.
Immerhin: Was die vier Musiker auf der Bühne machen, das machen sie gut. Mit viel Spielfreude und Unbefangenheit verstehen sie das Publikum in ihren Bann zu ziehen; und als Strohsahl Probleme mit
seinem Bass hat, wird eben der Rock 'n' Roll auf Gitarre und Drums aufgeteilt. Geht auch, fällt noch nicht einmal sonderlich auf. Das muss man erst einmal schaffen. Ein Grund dafür dürfte die
enorme Intensität zwischen Nikki und ihrem Ehemann Matt Hill sein, die sich immer wieder Bahn bricht. Jedes Liebeslied ist an den Gatten gerichtet, aber auch der Blues „Trouble“ und das starke
„Leave Me Alone“. Und jedes Mal ist klar, was kommt: Sie singt in seine Richtung, er spielt nur für sie, feurige Blicke und begierige Gesten erinnern an zwei sich umkreisende Katzen. Fast möchte
man den beiden empfehlen, das gut 100-minütige Konzert vorzeitig abzubrechen und sich ein Zimmer zu nehmen – doch das kann man dem euphorisierten Publikum nicht antun. Dieses feiert Nikki Hill
begeistert und erklatscht sich zwei Zugaben, darunter eine fantastische, immer mehr Fahrt aufnehmende Version von Sam Cookes “Twistin’ the Night Away”. Bleibt nur zu hoffen, dass in Zukunft noch
ein paar zusätzliche Instrumentalfarben ins Spiel kommen, vielleicht Jones und Strohsahl etwas prominenter sein dürfen – und dass Nikki Hill im kommenden Jahr wiederkommt. Sie selbst hat auf
jeden Fall schon Interesse angemeldet. Und das Publikum ohnehin.
Kommentar schreiben