„Bilder von uns“: Verdrängung durch einen Jedermann

Darüber sprechen, ohne es auszusprechen, alles nur andeuten, ja nicht jenes Tabu-Wort in den Mund nehmen. Missbrauch. So etwas sagt man nicht. Nein, Missbrauch hat es nie gegeben auf dieser Schule, die in Thomas Melles am vergangenen Donnerstag in der Werkstatt des Theater Bonn uraufgeführten Stück „Bilder von uns“ namenlos bleibt und die doch klar auf das Aloisiuskolleg Bad Godesberg verweist. Missbrauch kann man das doch nicht nennen, wenn ein Geistlicher jahrelang Nacktfotos seiner Schutzbefohlenen angefertigt hat – denn sonst wäre man als ehemaliger Schüler ja potenzielles Opfer, nicht mehr souveräner Macher.

So wie der erfolgreiche Verleger Jesko Drescher, der Protagonist des Dramas, dem ein Unbekannter genau solche Bilder zuschickt. Darauf: Er. Zehn, vielleicht zwölf Jahre alt. Hüllenlos. „Das bin ich“, sagt Drescher zu Zufallsbekanntschaft Katja, als diese eines der Fotos auf dem Handy sieht und den End-Dreißiger für einen Pädophilen hält. „Das bin ich.“ Drescher ist zerrissen, wird die Bilder nicht mehr los, so sehr er es auch versucht. Wer hat sie ihm geschickt? Jemand, der ihn zerstören will? Ihn und sein ganzes, sorgsam auf Verdrängung und Selbstbetrug aufgebautes schönes Leben? Auf der Suche nach dem anonymen Absender trifft er auf alte Klassenkameraden – und löst einen Skandal aus, dem selbst er nicht gewachsen ist.

Es ist eine intensiver Inszenierung: Auf einer kargen, oft von Diaprojektoren nur unzureichend beleuchteten Bühne samt Stühlchenkreis lässt Hausregisseurin Alice Buddeberg mit ungewohnt viel Zurückhaltung den Text Melles wirken, ohne dabei völlig auf die von ihr geliebten satirischen Überzeichnungen zu verzichten. Eine Gratwanderung, die in den meisten Situationen gelingt. Zum Glück, fordert das gut hundertminütige Stück des gebürtigen Bonners und ehemaligen Schülers des Aloisiuskollegs eine sonst kaum erreichbare Figurentiefe, zumal nicht eine Schuldfrage im Mittelpunkt steht, sondern die Offenlegung individueller Schicksale. Jeder geht auf seine Weise mit dem Geschehenen um: Anwalt Johannes (Holger Kraft) will alles auf sich beruhen lassen, Malte (in seiner Emotionalität exzellent: Hajo Tuschy) dagegen alles offenlegen; angeblich vor allem für Konstantin (Benjamin Berger), der trotz der Bemühungen seiner Freundin Sandra (Lydia Stäubli) nie über den Missbrauch hinweggekommen ist und der sowohl an der mangelnden Verdrängung als auch an der öffentlichen Debatte zerbricht. Und Jesko, der alles ins Rollen brachte? Versucht verzweifelt, das zusammenbrechende Konstrukt seines Lebens mit weiteren Selbsttäuschungen abzustützen, um weitermachen zu können wie bisher. So stürzt er sich in eine Affäre mit Katja (Johanna Falckner), die im Gegensatz zu seiner Frau Bettina (Mareike Hein) von ihm nichts fordert. Auch keine Aufarbeitung.

 

„Das bin ich“: Diesen Satz würde Jesko am liebsten vergraben. Benjamin Grüter spielt diese Rolle mit überragender Eindringlichkeit, zeigt zuerst die Paranoia, dann die Zerrissenheit und schließlich die endgültige Distanzierung mit der Unterzeichnung des „Briefs der 500“ (Auszüge aus dem Original, mit dem im Februar 2010 Altschüler sowie Eltern ehemaliger und jetziger Schüler ihre Solidarität mit dem Aloisiuskolleg zum Ausdruck bringen, verliest er selbst). Einen Schlusspunkt kann Jesko so aber nicht setzen. Denn unabhängig vom Umgang mit Missbrauch wird dieser, das macht Melle deutlich, die Betroffenen für den Rest ihres Lebens begleiten. Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Narben bleiben.

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