Er ist erwachsen geworden. Ein bisschen älter, ein bisschen weiser. Und deutlich braver. Die einst so provokanten, vom Index bedrohten Zeilen über Analverkehr hat Sido, der gestern Abends mit einer umjubelten "richtigen HipHop-Show" die KunstRasen-Saison 2016 in den Rheinauen eröffnet hat, schon seit längerem ebenso ad acta gelegt wie die Totenkopfmaske seiner frühen Solo-Tage. Mit derartigen Mitteln muss er einfach nicht mehr um Aufmerksamkeit heischen, muss sich nicht mehr als harter Kerl produzieren. Ein bürgerliches – manche sagen spießiges – Leben verändert nun einmal den Fokus. Statt Sex, Gewalt und Drogen, die noch 2004 auf „Maske“ zum Lebensmittelpunkt erklärt wurden, geht es dem Berliner Rapper nun um andere Dinge. Um Löwenzahn zum Beispiel („Wenn du ne gelbe Blume siehst, die den Zement durchbricht, dann denk an mich“). Um Liebe. Und um den vermeintlich großen Überblick.
Dem Erfolg Sidos hat dieser Richtungswechsel trotz mancher scharfer Kritik vor allem seitens früherer Jünger nicht geschadet, ganz im Gegenteil: Der Mainstream hat den einstigen Aggro-Berlin-Star
herzlich empfangen, Songs wie „Astronaut“ mit Andreas Bourani oder „Einer Dieser Steine“ mit Mark Forster sprechen eine klare Sprache. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Sido
zugegeben, das vor allem zu tun, um seine Titel radiotauglicher zu machen. Konsumerabler also. Zum Teufel mit der so genannten Street Credibility der Gangsta-Rapper. In Bonn setzt er trotzdem in
erster Linie auf HipHop-Lines, was bei den etwa 3000 Zuschauern zwischen 10 und 64 Jahren gut ankommt und die Arme im Takt wippen lässt. Ohnehin verleugnet Sido trotz seiner Wandlung vom Saulus
zum Paulus nicht seine Vergangenheit. Nur wirken bestimmte Titel jetzt einfach anders. Ist „Schlechtes Vorbild“ immer noch Koketterie mit dem Bad-Boy-Image, oder ist der Text inzwischen
vielleicht doch erst gemeint? Wenn man neue Tracks wie das unglaublich intensive „Gürtel Am Arm“ hört, das zu den mit Abstand stärksten, poetischsten und sozialkritischsten Stücken des Berliners
zählt, wenn man diesem scharfen Blick auf ein Leben unter Drogen folgt, das Sido laut seiner Biographie aus eigener Erfahrung kennt, besteht die Hoffnung, dass es letzteres ist. Andererseits
performt er die meisten Stücke doch in erster Linie mit einem anderen Ziel: Partystimmung zu verbreiten. Tiefgang hilft da nur bedingt.
Nur manchmal funkelt in dem zweistündigen Auftritt auf dem KunstRasen noch der alte Sido durch, der mit dem Image des von Rausch und Aggression berauschten Heranwachsenden aus dem Märkischen
Viertel spielt und der sich gewisse aggressive oder ordinäre Zeilen einfach nicht verkneifen kann. Dann setzt er die inzwischen zwar unsichtbare, aber dennoch präsente Maske wieder auf, wird zum
Proll statt zum Mahner. Sicherlich auch, weil sein Publikum das fordert. Und für das tut Sido schließlich alles. Also geht es irgendwann doch wieder um „Eier“, erklingt gegen Ende des Bonner
Auftritts doch der „Arschficksong“. Muss ja sein, gehört irgendwie dazu, und zum Teufel mit der zuvor zelebrierten Familienfreundlichkeit. Andererseits: In weiten Teilen wahrt Sido tatsächlich
jene Balance „zwischen Demut und Größenwahn“ (Löwenzahn), die er sich selbst verschrieben hat. Ob das gut oder schlecht ist, muss letztlich jeder selbst wissen.
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