Alles ist eine Lüge. Die Amnesie, die Krimiautor Gilles (Hanno Dinger) zu haben behauptet. Das Bild, das seine Frau Lisa (Charlotte Welling) von ihm zeichnet. Die Ehe, die sie seit 15 Jahren führen und die doch nur zu einer Entfremdung geführt hat, an der beide auf ihre Art und Weise leiden. Und die Liebe? Ist zumindest sie hinter all diesen alternativen Wahrheiten real? Oder ist auch sie ein Opfer der „Kleinen Eheverbrechen“ geworden? Im Euro Theater Central hat sich Regisseurin Gabriele Gysi nun dieses Stoffes aus der Feder von Éric-Emmanuel Schmitt angenommen und ihre beiden Schauspieler Charlotte Welling und Hanno Dinger in ein bemerkenswertes Spannungsfeld geworfen: Auf der einen Seite herrscht eine emotional aufgeladene Bildsprache vor, auf der anderen ein fast schon klinisch analytischer Ton, mit dem sämtliche Illusionen seziert und entkernt werden. Ein durchaus nachvollziehbarer Ansatz – der doch zugleich zu der größten Schwäche der Inszenierung wird.
In einem permanenten Kampf um die Wahrheit über den Zustand ihrer Ehe dringen Lisa und Gilles in die tiefsten Abgründe der Seele vor. Insbesondere erstere erweist sich dabei als emotionales
Wrack, sich auf der einen Seite manisch an die Beziehung klammernd und sie auf der anderen zerstören wollend, um Platz für einen Neuanfang zu schaffen. In gewisser Weise wird sie so sogar
zumindest auf psychologischer Ebene zur Mörderin: „Du hast die Fremden umgebracht, zu denen wir geworden sind“, sagt Gilles, der trotz allem, was Lisa ihm angetan hat, trotz aller heimlichen und
offenkundigen Attacken, noch Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft hat. Doch danach sieht es zunächst nicht aus: Sich gegenseitig begehrend und verzehrend tanzt das Paar taumelnd am Abgrund
entlang, immer kurz vor dem endgültigen Absturz, auf der Suche nach der Liebe, die vielleicht noch nicht völlig verloren ist. Das Stück generiert dabei einen immensen Sog – doch steuert die
Inszenierung permanent dagegen, anstatt die Zuschauer in selbigem versinken zu lassen. Einer explosiven, mitunter gar überzeichneten Körperlichkeit (vor allem in einer Sex- und einer
Streit-Szene) steht ein artifizieller Duktus gegenüber, der das Lügengeflecht widerzuspiegeln scheint und der zugleich eine vollständige Immersion in die Handlung verhindert. Während es der
herrlichen Charlotte Welling jedoch gelingt, diesem Tonfall mit zunehmendem Wahrheitsgehalt zu entfliehen und die verborgenen Wunden Lisas mit eindringlichem Spiel ans Licht zu ziehen, bleibt
Hanno Dinger ein wenig zu sehr in dieser Distanziertheit des Sprechakts gefangen. Von echter Betroffenheit, wie sie Gilles eigentlich zumindest gegen Ende des Stücks zeigen müsste, ist nicht
genug zu sehen, von ehrlicher Wärme leider auch nicht. So logisch dies auch zu Beginn der Inszenierung sein mag – am Ende könnte der gefühlsmäßige Klimax ruhig noch ein wenig stärker zur Geltung
kommen.
Dennoch ist „Kleine Eheverbrechen“ ein überaus lohnenswertes Stück, das einige starke Einsichten in die Höhen und Tiefen wahrer Liebe gewährt und in gewisser Weise Ambrose Bierce zugleich
bestätigt, ergänzt und widerlegt: Der amerikanische Satiriker, berühmt-berüchtigt für seinen Zynismus, definierte einst in seinem „Devi's Dictionary“ die Ehe als eine Gemeinschaft bestehend aus
einem Meister, einer Herrin und zwei Sklaven. Schmitt fügt noch zwei Mörder hinzu – und schafft es dennoch, einen Silberstreif am Horizont zu zeichnen. Der gewagte Balance-Akt zwischen Gefühl und
Ratio sorgt derweil trotz eines gewissen Ungleichgewichts dafür, dass dies nicht einfach hingenommen, sondern im Nachhinein bewusst reflektiert wird. So regt der Theaterbesuch einmal mehr zum
Nachdenken an. Und das ist doch letztlich die Hauptsache.
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