Im Jenseits sind sich alle einig: Die Geisteswissenschaften an der Universität Bonn müssen erhalten bleiben. Eine Streichung zu Gunsten eines Zentrums für Künstliche Intelligenz, wie aus der Welt der Lebenden kolportiert wird? Undenkbar! Ein Skandal! Nein, an der Philosophischen Fakultät will wirklich keiner der Teilnehmer dieser Krisenkonferenz im Jenseits rütteln. Die ehrwürdigen Alumni der Universität, die in diesem Jahr immerhin ihren 200. Geburtstag feiert, lassen keinen Zweifel daran, dass sie das nicht ohne Gegenwehr akzeptieren würden. Ein Aufstand großer Geister droht. Und auch wenn es sowohl über den richtigen Lösungsweg als auch über den Fortbestand der ebenfalls betroffenen theologischen Fakultäten Dissens gibt – nicht zuletzt aufgrund der Anwesenheit von Karl Marx und Friedrich Nietzsche –, gehen die verschiedenen Plädoyers doch letztlich alle in die selbe Richtung.
Die Performance „Als Nietzsche noch vor dem Regal stand“, die das Theater Bonn in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Religion und Gesellschaft der Universität Bonn auf die Beine gestellt hat und
die jetzt anlässlich des Jubiläumsjahres erstmals im Hörsaal I des Hauptgebäudes präsentiert wurde, ist das Ergebnis eines bemerkenswerten Projekts mit einer zwar einjährigen Planungs-, aber
einer um so kürzeren Probenphase. Gerade einmal fünf Tage hatte Regisseurin Christine Schelhas Zeit, um mit Studenten die Inszenierung zu erarbeiten, die Rollen zu erarbeiten und die Abläufe
durchzugehen. Umso erstaunlicher das Ergebnis: Dank starker Kostüme (Maria Strauch) und durchdachter, historisch fundierter Texte kam jede der Persönlichkeiten zu ihrem Recht, von Georg Hermes
über Wilhelm Neuß bis hin zu Klara-Marie Faßbinder. Großartig vor allem der rebellische Karl Marx (Marleen Wengorz) – und Ludwig van Beethoven (Joana Abondo), der im Gegensatz zu den anderen
Gestalten nicht still sitzen kann, sondern immer im Hintergrund unterwegs ist, mal auf einem Miniatur-Klavier komponiert, dann wieder die Blumen gießt, zu allen möglichen und unmöglichen
Zeitpunkten zu spielen anfängt und genau dann, wenn er für ein musikalisches Intermezzo sorgen soll, in einen Streik tritt. „Ich habe es so satt, von euch instrumentalisiert zu werden“, ruft er
durch seine Hörrohr-Flüstertüte in Richtung Bonn. „Ihr Braucht mich doch nur für euer Image.“
Derart unerwartete Einwürfe lockern die 75-minütige Aufführung geschickt auf und sorgen zwischen den philosophisch aufgeladenen Traktaten mancher Figuren für regelmäßige Lacher. Schön auch die
Idee, Papst Benedikt XVI (Fiona Huhn) aus dem Diesseits per Live-Schaltung hinzuzuziehen. Zudem ist es dem Ensemble hoch anzurechnen, dass es nicht nur die Lichtgestalten der Universität Bonn auf
die Bühne holt, sondern auch Joseph Goebbels (Ann-Kathrin Buhl) zu Wort kommen lässt und ihm sogar einen der rhetorisch eindrucksvollsten Momente gewährt – zumindest bis er durch das versammelte
Plenum Widerstand erfährt und sich verdattert in AfD-Floskeln flüchtet. „Genau deswegen benötigen wir die Geisteswissenschaften“, fasst es Klara-Marie Fassbinder (Marco Weber) letztlich zusammen.
„Sie sind das beste Instrument, um das Gedankengut des Dritten Reichs in die Schranken zu weisen. Wir brauchen die Andersdenkenden, die Querdenker, die Unbequemen“, kurzum jene, die Argumente
hinterfragen, statt ihnen blind zu folgen. Die Studenten auf der Bühne haben dies offenbar gelernt, wie diese intelligente Inszenierung zeigt. Eine von ihnen, Pia Rodriguez, bringt es ganz zum
Schluss auf den Punkt: „Ich studiere, weil ich jeden Tag lerne, neu zu denken.“ Mehr kann eine Universität nicht erreichen.
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