„Der Sandmann“: Reise in eine traumatisierte Seele

Wenn die Augen das Fenster zur Seele sind, dann blickt Nathanael auf ein verbranntes Ödland, nur unzureichend verborgen unter einer Schicht künstlicher Normalität. Seit sein Vater auf mysteriöse Weise den Tod gefunden hat, ist der junge Mann traumatisiert. Und schuld ist seiner Überzeugung nach nur der Sandmann. Er, der den Kindern die Augen raubt oder wahlweise eben die Eltern und der einst in der Gestalt des dämonischen Advokaten Coppelius den Herrn Papa zu gefährlichen alchemistischen Experimenten verleitete. Trotz dieses Schreckgespensts im Hintergrund hat sich Nathanael ein Leben als Student aufgebaut, kommt zurecht – bis ein Händler auf seiner Türschwelle auftaucht, der ihn an Coppelius erinnert. Prompt brechen alte Wunden wieder auf. Und der Wahnsinn beginnt.

E.T.A. Hoffmanns dunkle Erzählung „Der Sandmann“ ist ohne Zweifel ein Meisterwerk der deutschen Romantik und Ausgangspunkt zahlreicher psychologischer Analysen. Nun hat sich das Euro Theater Central des Stoffes angenommen und das verwirrte Gemüt Nathanaels in einer mitunter überaus performativen Inszenierung auf der Bühne umgesetzt. Halb Groteske und halb szenischer Vortrag entführt das Stück sein Publikum immer tiefer in eine Gedankenwelt, in der sich Schein und Sein zunehmend überlappen. Eine leichte Kost ist das nicht, zumal Hoffmanns Sprache auch in der Fassung von Nina Dahl und Regisseurin Laura Tetzlaff ihre komplexe Syntax beibehält. Zusammen mit den ständig wechselnden Perspektiven sind die Zuschauer so gezwungen, überaus konzentriert bei der Sache zu sein und die Pausen zu nutzen, die sich durch Stille und Repetition mitunter ergeben. Irritierend wird es dagegen, wenn das dreiköpfige Ensemble im Chor oder gar versetzt spricht. Dramaturgisch mag dies Sinn ergeben, inszenatorisch ergeben sich so aber Verständnisprobleme, die eigentlich nicht sein müssten.

Andererseits unterstützt Tetzlaff die von ihr gewählte Lesart mit eindeutigen Bildern: Die zunächst zu einem überdimensionalen Bett geschichteten Matratzen auf der Bühne, die für Nathanael gewissermaßen als heimeliger Rückzugsort dienen, werden nach und nach zu den Wänden einer Gummizelle, in der sich das Trauma zunehmend Bahn bricht. Lucijan Gudelj gibt bei seinem Euro-Theater-Debüt den Nathanael als verschreckten Jüngling mit manischen Zügen, bei dem bis zum Schluss nicht so ganz klar ist, ob der Sandmann (von Richard Hucke mit einer unterschwellig bedrohlichen Präsenz versehen) nur eine Einbildung ist oder vielleicht sogar eine Art Alter Ego, wie etwa die Kostüme andeuten. Dritte im Bunde ist Leonie Renée Klein als Nathanaels Jugendliebe Clara, die der Rolle eine kindliche Unschuld verleiht, was überaus süß wirkt, mitunter allerdings mit der sachlichen Abgeklärtheit dieser Figur kollidiert.

Trotz der psychologischen Tiefe ist „Der Sandmann“ nicht ohne Humor. Vor allem in der zweiten Hälfte des 75-Minuten-Stücks, in der das Wahnhafte immer häufiger zum Vorschein kommt, sorgen groteske Momente wie das bewusst lächerlich wirkende Klimperkonzert der von Nathanael angebeteten Puppe Olimpia für Gelächter, ebenso wie einige herrlich trockene Einwürfe Huckes. Dieser Kontrast zwischen Phantasterei und (gespielter) Realität wirkt mitunter überaus komisch, ist aber zugleich ziemlich erschreckend, wenn man einmal genauer darüber nachdenkt. Und dazu regt die Inszenierung im Euro Theater Central durchaus an.


Termine: 19. – 22. Juni, jeweils 20 Uhr im Euro Theater Central. Karten erhalten Sie an der Theaterkasse in der Galeria Kaufhof sowie unter 0228 65 29 51.

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