Sherin sucht Ferhad, und Ferhad sucht Sherin. Nur einmal sind sie sich begegnet, irgendwo in den Straßen Istanbuls: Er, der jesidische Schafhirt, der auf der Flucht vor dem IS ist und sich in Deutschland ein neues Leben erhofft; und sie, die in der Bundesrepublik aufwuchs und nun aus einem nebulösen Gefühl der Unzugehörigkeit an der Grenze von Türkei und Irak die Schrecken des Krieges mit eigenen Augen sehen will. Zwei Entwurzelte, die sich nach einer Zukunft sehnen und sich im Vorbeigehen finden. Und wieder verlieren. Liebe im Transit, zwischen Sengal und Bonn. Hier, in der Bundesstadt, wollen sie wieder zusammenkommen, so der Plan. Doch das wird schwieriger als gedacht.
„Anziehungskräfte“ heißt das Stück des kurdischen Autors Mirza Metin, das Regisseur Frank Heuel jetzt im Theater im Ballsaal uraufgeführt hat. Anziehungskräfte, die den Menschen nach Sicherheit
und Frieden streben lassen, aber auch nach Heimat – und eben nach Liebe. Diese Sehnsüchte hat Metin in Interviews mit in Köln und Bonn lebenden Kurden zusammengetragen, hat ihre Geschichten im
Auftrag des Fringe Ensembles gesammelt und zwei davon zu einer romantischen Tragödie verwoben, die es in dieser Form zwar nicht gab, aber durchaus hätte geben können. Das macht Hoffnung, denn was
Sherin und Ferhad ansonsten zu erzählen haben, ist schlichtweg erschreckend. Sie muss mit ansehen, wie ihr Vater als progressiver Lehrer geschlagen und bedroht wird, bis ihm nur noch das Exil in
Deutschland bleibt. Doch dort kann er in seinem geliebten Beruf nicht arbeiten. Und Sherin? Begegnet einem Alltagsrassismus, mit dem auch Ferhad 4000 Kilometer entfernt zu kämpfen hat. Als Jeside
werden er und seine Familie unterdrückt, ihre Waren gelten als haram, als unrein und verboten. Als dann auch noch die Fanatiker des IS kommen, ist die Flucht der einzige Ausweg.
Heuels Inszenierung lebt denn auch von diesen Erzählungen. Gezeigt wird relativ wenig, monologisiert dafür umso mehr. Hicran Demir verleiht Sherin dabei einen herrlich rebellischen Geist, umgibt
die als Kind traumatisierte Figur mit einem eigensinnigen, fast schon kratzbürstigen Charakter und einer Mischung aus vermeintlicher Härte, klarem Willen und sichtbarer Identitätslosigkeit.
Demgegenüber wirkt David Fischers Ferhad fast schon fad: Der brave, unschuldige Duktus bildet einen starken Kontrast zu Sherins kraftvollem Organ, selbst ein „Bumm tata“ wird bei ihm zu einer
Floskel statt zu einer emphatischen Betonung. Dabei hätte er viel mehr Grund, wütend zu sein, er, der das Leid direkt und gegenwärtig erfährt und es nicht wie Sherin mit Erinnerungen am Leben
hält. Doch er ist still. Zurückhaltend. Ein Unschuldslamm, das vielleicht gerade deswegen Sherin in Istanbul auffällt. Sie ist es allerdings auch, die die Liebe forciert, die Ferhad anruft, sich
um ihn sorgt, ihm Unterstützung zusagt und ihn nach Bonn lotst. Wo Ferhad, der sein Handy auf der Flucht durch Europa verloren hat, nun seine Sherin sucht. Ob sie hier wieder zueinander finden?
Das Stück gibt keine klare Antwort. Das wäre ja auch zu einfach. Doch die Hoffnung ist da. „Die Liebe ist nicht von dieser Welt, aber die Welt ist für die Liebe da“, sagen sie. Wenn das jetzt nur
alle verstehen würden.
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