Die Menge hat die Wahl: Zuhören oder tanzen? Unbequeme Wahrheiten hören oder sich zu hypnotischen Beats in Trance wiegen? Beides ist möglich an diesem Abend im Carlswerk Viktoria, der neuesten Halle im Kölner Osten in unmittelbarer Nähe von Palladium und E-Werk. Und wenn es nach Neneh Cherry geht, sollte das Publikum auch beides machen, selbst wenn das nicht immer einfach ist angesichts teils massiver Bässe und wabernder Klänge, die geradezu einladen, sich fallen zu lassen und die traurige Realität zumindest für ein oder zwei Stunden zu vergessen. Andererseits war und ist das nicht im Sinne Cherrys: Die 54-Jährige hatte stets etwas zu sagen, bewies Haltung und prangerte all jene an, die ihre Menschlichkeit dem Kommerz opferten. Bis heute gilt sie als das gute Gewissen der Pop-Musik, als eine, die nie aufhört sich zu engagieren. Nun, fünf Jahre nach ihrem Comeback, ist sie gesellschaftskritischer denn je – und nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um ihre Botschaft zu transportieren. Inklusive treibender Industrial-Rhythmen.
Das dafür notwendige Selbstbewusstsein hat Neneh Cherry schon immer besessen, auch als sie 1994 mit Youssou N'Dour ihren bislang größten Hit „7 Seconds“ eingespielt hat. Die schwedische Sängerin
und Stieftochter des legendären Jazz-Trompeters Don Cherry lässt sich nicht einengen oder festlegen, sucht stets nach neuen Ansätzen, egal was die Charts dazu sagen. Ihr 2014 erschienenes Album
„Blank Project“, das erste nach 18 Jahren, erwies sich denn auch als sprödes, schroffes, kompromissloses Werk voller Elektronika sowie von Massive Attack und Portishead inspirierten
Sound-Teppichen, mitunter überaus minimalistisch und dann wieder überaus massiv. In Köln, dem ersten Tour-Stop außerhalb Großbritanniens, verzichtet sie aber bis auf den Titeltrack auf die
geballte Wucht von „Blank Project“ und präsentiert lieber ihre aktuelle CD „Broken Politics“, die eine konsequente musikalische Weiterentwicklung des Vorgängers darstellt. Die Klangwelten sind
filigraner geworden, weicher, ergänzt um Marimba und Harfe – doch gerade dadurch dringen sie viel tiefer ein und entfalten ihre subkutane Wirkung umso stärker. Kein Effekt hängt im luftleeren
Raum, alles passt zusammen, selbst wenn etwa bei „Black Monday“ so einige Synthi-Felder zur Untermalung herangezogen werden. Den Song widmet Neneh Cherry übrigens all jenen polnischen Frauen, die
2016 gegen eine geplante Verschärfung der Abtreibungsgesetze auf die Straße gegangen sind, derzufolge ein Schwangerschaftsabbruch auch bei einer Gefährdung der Gesundheit der Mutter verboten
wäre. Dann wieder kritisiert sie lasche Waffengesetze („Shot Gun Shack“) oder die Flüchtlingskatastrophe („Kong“), mitunter musikalisch erstaunlich entspannt, inhaltlich aber knallhart.
Für die Vergangenheit bleibt dabei leider kaum Zeit, auch wenn zumindest „Manchild“ erklingt und auf „Soldier“ überleitet. Eine doppeldeutige Verknüpfung. Nein, Kindersoldaten meint Neneh Cherry
ausdrücklich nicht, dankt vielmehr all jenen „guten Kriegern“, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen. Sie selbst gehört dazu, keine Frage. Bedauerlich ist allerdings, dass sie
diese finale Botschaft nach gerade einmal 60 Minuten in den Raum entlässt. Gut, drei Zugaben folgen noch, darunter natürlich „Buffalo Stance“ und „7 Seconds“, doch dann ist Neneh Cherry weg, viel
zu früh und viel zu schnell. Enttäuschend. Bleibt zu hoffen, das wenigstens ihre Botschaften ein wenig länger bleiben.
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