Die schweren Schwingen flirren im Scheinwerferlicht. Immer wieder transformiert Gaye Su Akyol ihren Kunststoff-Mantel zu ihren Flügeln, mit denen sie mitunter ein wenig an einen Engel erinnert und die doch nur ein Symbol für den Freiheitsdrang der jungen Türkin sein dürften. Grenzen in der Kunst überfliegt die 33-Jährige einfach, und das in beide Richtungen: Nach Westen, um den Grunge von Nirvana ebenso zu rezipieren wie die Chansons von Edith Piaf, und nach Osten, um die anatolische Rockmusik der 60er und 70er Jahre wiederzubeleben und zu revolutionieren. In der Harmonie hat Gaye Su Akyol nun mit einem phänomenalen Auftritt für ein starkes Finale des „Over the Border“-Weltmusikfestivals gesorgt, hat Metaphern und surrealistische Bilder in faszinierende Töne verwandelt und dabei zugleich die politische Situation in ihrer Heimat kommentiert.
Gaye Su Akyol gilt als eine der spannendsten jungen Stimmen der Türkei, die nahöstliche Traditionen mit urbanem Untergrund-Sound mischt und sowohl für ihre als auch für jüngere Generationen zu
einem musikalischen Vorbild geworden ist. In der Harmonie wird sie dementsprechend gefeiert, von ihren Landsleuten natürlich, die häufig überaus textsicher sind, aber auch von allen anderen
Gästen, die von dem Geschehen auf der Bühne schlichtweg begeistert sind. Kein Wunder: Die Rock-Prinzessin vom Bosporus ist schließlich ein glamouröser Star für jedermann, eine charmante
Erscheinung und vor allem eine bildschöne Sängerin mit einem Hang zu Extravaganz, ohne allerdings dadurch zu einer unnahbaren Kunstfigur zu mutieren. Ihre Stimme ist nicht minder fantastisch,
betörend und lasziv, dank dem für europäische Ohren eigentümlichen arabischen Singsang durchaus exotisch, zugleich aber überaus direkt. Zusammen mit ihrer maskierten Band taucht sie so in
psychedelische Tiefen ab, wagt sich auch mal in die Düsternis des Wave vor, entfaltet dort ihre Regenbogenschwingen und lässt in den wabernd rockigen Klängen enigmatische Phrasen entstehen. „Das
ganze Land ist ein Shisha-Café, wir ersticken in seinem Rauch“, singt sie etwa – die englischen Übersetzungen liefert sie bei ihren Moderationen gleich mit. Gut: So weiß wenigstens jeder, dass
Gaye Su Akyol sowohl optisch als auch inhaltlich eine Entdeckung ist, die auch in Zukunft noch für einige Überraschungen gut sein dürfte.
So geht das „Over the Border“-Festival nach zwei hochmusikalischen Wochen so zu Ende, wie es begann, also abwechslungsreich, farbenfroh und intensiv. Organisator Manuel Banha ist denn auch
insgesamt zufrieden: „Bei dem ein oder anderen Konzert wäre noch Luft nach oben gewesen, aber grundsätzlich hat das Festival einmal mehr gezeigt, was für einen großen Stellenwert Weltmusik in
Bonn hat“, sagt er. Die Planungen für das nächste Jahr würden bereits laufen. Es wird also auch 2020 wieder spannend werden. Und grenzenlos.
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