Die Pandemie hat für Anne Haigis vieles verändert. „Alles ist geschrumpft“, sagt sie: das Publikum ist kleiner als gewöhnlich, die Band nicht mehr vorhanden, weil sich so mancher Musiker in der Krise umorientieren musste und zum Beispiel Grundschullehrer wurde, so wie Haigis' Pianist. Doch manche Dinge haben sich nicht geändert, insbesondere die charismatische Reibeisenstimme einer Sängerin, die in den vergangenen vierzig Jahren englischen Folk, Jazz und Rock ebenso bedient hat wie deutschsprachigen Pop. In der Harmonie hat die Beuelerin jetzt das Jubiläum ihrer ersten Platte gefeiert und einen Querschnitt ihrer Karriere präsentiert, der keine Wünsche offenließ und die 65-Jährige im intimen Rahmen eines Solo-Akustik-Konzerts in Bestform zeigte.
Schon mit den ersten Tönen setzte Anne Haigis Maßstäbe. „That was a River“, a capella, nackt, intensiv, auf das Minimum reduziert. Bei diesem Auftakt kam die Gänsehaut von selbst. Und sie sollte
noch öfter für ein Kribbeln sorgen, vor allem dann, wenn die rauchigen, kantigen, gesellschaftskritischen Balladen kamen, so wie die Country-Nummer „No Man's Land“, die Anne Haigis einst mit
niemand geringerem als Eric Burdon sowie dem Ex-Rainbow-Keyboarder Tony Carey aufnahm, oder die legendäre Tom-Waits-Nummer „Tom Traubert's Blues“, das sie als ihr Lieblingslied bezeichnete und
das nur ganz wenige Künstler so überzeugend interpretieren können wie sie. Dennoch hat Anne Haigis ihre kommerziell größten Erfolge mit deutschen Stücken erzielt, mit „Kind der Sterne“ etwa oder
mit „Freundin“. Ersteres ist Pflicht bei jedem Konzert, letzteres eher eine Ausnahme. „Ich habe diesen Song jahrelang aus meinem Leben verbannt, weil ich damit tatsächlich in die Charts gekommen
bin“, erklärte Anne Haigis, „und wenn man in den 80ern in Deutschland in die Charts kam, musste man unweigerlich in die ZDF-Hitparade.“ Für eine Rockröhre ein Alptraum. Aber auch dieses Erlebnis
ist nun einmal Bestandteil ihres Lebens, und so hat Anne Haigis inzwischen ihren Frieden mit „Freundin“ gemacht.
In gewisser Weise war das Konzert in der Harmonie für Anne Haigis etwas Besonderes – nicht nur wegen des Jubiläums, sondern vor allem, weil es für sie ein Heimspiel war, mit Freunden und Nachbarn
im Publikum, die bereitwillig mitsangen, als der Kehrvers von „Life is wonderful“ erklang. Ihnen vertraute die gebürtige Schwäbin denn auch so manche Geschichte an, etwa die von jenem Club im
Stuttgarter Leonardsviertel, in dem sich abends Prostituierte und Jazz-Musiker gleichermaßen trafen und in dem Anne Haigis ihre ersten Bühnenerfahrungen sammelte. Dort schrieb sie einst ein Lied
für eine junge Blumenverkäuferin („Emily im Park“), und dort wurde sie auch von Wolfgang Dauner entdeckt, ihrem ersten Produzenten, Vertrauten und – für ein paar Jahre – ihrem Lebensgefährten.
Ihm widmete sie das Lied „Um dich doch zu bewahrn“, das wie auch einige andere der genannten Titel zusammen mit der ein oder anderen neuen Komposition das gerade erst veröffentlichte Album „Carry
On“ bilden. Dieses ist Rückblick und Ausblick zugleich, ist nachdenklich und macht doch Mut, vor allem mit Blick auf Anne Haigis, die noch lange nicht an einen Rückzug vom Bühnenleben denkt.
Wieso auch? Es mag ja sein, dass vieles geschrumpft ist. Aber Anne Haigis, die wächst daran.
Kommentar schreiben