Gut gemeint heißt längst nicht immer gut gemacht. Die beiden Wannabe-Kidnapper Klein-Machow und Bad Langensalza aus der aktuellen Distel-Produktion „Nachts im Bundestag“ haben sich ihre Guerilla-Aktion im Dienste der Gerechtigkeit auf jeden Fall anders vorgestellt. Mit einem entführten Bundestagspolitiker, so ihr Kalkül, müssten sie doch eigentlich für genug Aufsehen sorgen, um etwas zu ändern. Am liebsten alles. Es gibt schließlich so viel, was im Argen liegt: Der Pflegenorstand, die Corona-Politik, die Verkehrswende. So kann das doch nicht weitergehen. Doch im Lagerraum für ausrangierte Politiker, irgendwo in den Katakomben des Bundestags, erweist sich das Opfer des Wutbürger-Duos wider Willen als lahme Ente. Heinz Güdderath, CDU-Hinterbänkler auf dem Abstellgleis, unwichtiger geht es kaum noch. Immerhin können sie aber gemeinsam so richtig vom Leder ziehen – und zumindest die ein oder andere Pointe setzen.
Das Berliner Kabarett-Theater Distel ist schon seit Jahrzehnten eine Institution. Mehr als 150 Programme hat die Ost-Antwort auf die „Stachelschweine“ seit 1953 präsentiert, vollgepackt mit
Sketchen, Parodien und bissigen Liedern. Regelmäßig ist das Ensemble unter anderem im Haus der Springmaus zu Gast, und der überraschend gut besuchte Sonntag zeigt deutlich, welch hohen
Stellenwert die Distel im Rheinland besitzt. Zu Recht, wie „Nachts im Bundestag“ unterstrich. Die großen und kleinen Probleme, die die Alleinerziehende Klein-Machow (Nancy Spiller) und der
Pfleger Bad Langensalza (Sebastian Wirnitzer) mit Güdderath (Stefan Martin Müller) diskutieren, sind keineswegs überholt, sondern vielmehr aktueller denn je – zumal das Ensemble dafür gesorgt
hat, dass unter anderem Entwicklungen der letzten Tage wie etwa die Wahl von Friedrich Merz zum CDU-Parteivorsitzenden geschickt in die Rahmenhandlung eingebaut wurden. Dazwischen thematisierte
das Trio, das bei Bedarf schauspielerische Unterstützung durch die beiden Musiker Matthias Lauschus und Fred Syman erhielt, den Erfolg der FDP bei den Koalitionsverhandlungen,
Resozialisierungsmaßnahmen für anonyme AfD-Wähler, die Religionsfreiheit, Sexismus in der Auto-Industrie und natürlich den Pflegenotstand. „Morgen erschieß ich meine Oma“, trällerten die drei
bissig, weil alles andere einfach zu teuer ist. Oder noch nicht teuer genug. Wenn ausgerechnet die Caritas einen flächendeckenden Tarifvertrag in der Altenpflege ablehnt, muss irgendetwas auf
jeden Fall grundlegend verkehrt sein.
Bissig und unterhaltsam spielte sich das Distel-Ensemble somit um Kopf und Kragen, sehr zur Begeisterung des Publikums. Lediglich die Gesangsnummern in der ersten Programmhälfte konnten nicht so
ganz überzeugen. Erst als Stefan Martin Müller seine Bühnenfigur in bester Daddy-Cool-Manier vom ersehnten Erfolg in der Politik und bei den Frauen rappen ließ, stimmte auch in diesem Bereich
alles. Die Zuschauer bejubelten das Quintett am Ende denn auch mit kräftigem Applaus und können sich jetzt bereits aufs nächste Jahr freuen. Wieder mit der Distel. Aber dann hoffentlich ohne
Corona.
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