„Bevor wir gehen“: Tod im Eis

Am Ende ist sich jeder selbst der Nächste. Als ob das etwas helfen würde. Vielleicht gewährt der Egoismus einem selbst noch ein paar Wochen mehr, noch ein paar Wochen der Existenz in einer gefrorenen, gefühlskalten Welt – doch zu welchem Preis? Diese Frage beantwortet Kristo Šagors Dystopie „Bevor wir gehen“, die das Theater Rampös am vergangenen Wochenende in der Brotfabrik aufgeführt hat, ebenso eindringlich wie erschreckend. Inmitten einer unerwartet angebrochenen Eiszeit, in der jeder Schritt im Freien den Tod bringen kann („The Day After Tomorrow“ lässt grüßen), klammern sich zehn Menschen in einem Kaufhaus mit allen Mitteln an das Leben und sind dabei bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Doch letztlich ist jede Hoffnung vergebens. Und die Menschlichkeit Geschichte.

Es ist ein schwieriger Stoff, den das starke Laien-Ensemble unter der Regie von Antje Mies mit einer enormen Intensität auf die Bühne gebracht hat, einer, der unter die Haut geht. „Wie wollen wir diese Welt verlassen, bevor wir gehen“, das ist die zentrale Frage: Als Gemeinschaft oder als Einzelkämpfer, solidarisch oder eigennützig, mit Liebe im Herzen oder mit Eis in der Brust. Šagors Antwort fällt pessimistisch aus. Selbst der ständig redende Paul (Michael Nann mit genau der richtigen Mischung aus Verzweiflung, Penetranz und Freundlichkeit), der den anderen Figuren immer wieder seine Hilfe anbietet, handelt letztlich eher aus Angst vor der Einsamkeit als aus Nächstenliebe. Und auch er muss sterben, sogar als einer der ersten. Wie eine grausame Version des Zählreims „Ten Little Injuns“ fallen die Kaufhausbewohner dem brutalen Yannick (Paul Frenke), dem zwiegespaltenen, stets auf den eigenen Vorteil bedachten Lennard (Adrian Denner) oder auch einfach den Umständen zum Opfer.

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Doch Überleben ist in dieser Situation auch nicht besser. Während die Toten durch die Räume tanzen, wird der Kampf um den nächsten Tag immer schwerer, die Vorräte immer knapper und die Leichenberge immer größer. Der Weg zum Kannibalismus ist dann nicht mehr weit, und so lange niemand weiß, wen sie essen, kann die Fantasie immer noch die Realität verdrängen. Bis irgendwann nur noch Lennard und Rebekka (Julia Katharina Stark) übrig sind. Und dann nur noch letztere. Sie, die verzweifelte Eva am Abgrund, der letzte Funke Menschheit, eine Frau ohne Zukunft, die auch niemandem sonst mehr eine solche geben kann. Ein Kind hat sie schon begraben müssen, ein weiteres kam tot zur Welt, das letzte scheint eine Kopfgeburt zu sein. Und dann? Herrscht Schweigen.

 

Nur aus Lust am Spiel hat sich Theater Rampös allerdings nicht für „Bevor wir gehen“ entschieden. Vielmehr hat Regisseurin Antje Mies das Stück unter dem Eindruck der Flutkatastrophe im Ahrtal ausgewählt und zieht im Programmheft verschiedene Parallelen zwischen dem apokalyptischen Frost und den tödlichen Wassermassen, die im vergangenen Jahr ihre Heimat verwüsteten. So bilden Steine aus dem Bett der Ahr die eisige Grenze zwischen dem Kaufhaus und den tödlichen Naturgewalten. Ob diese Verbindung trägt, konnten vermutlich nur jene im Publikum beurteilen, die während des Hochwassers selbst betroffen waren. Die Inszenierung an sich dürfte aber niemanden kalt gelassen haben.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ines Schulten (Mittwoch, 27 April 2022 23:37)

    Es war eine sehr bewegende und beeindruckende Inszenierung! Es war dramaturgisch auf den Punkt gebracht und fesselnd! Alle Darsteller waren mega überzeugend und auch die Musik war sehr fesselnd ! Kurz um : Es war ein Stück, das Emotionen ausgelöst hat! Und mich persönlich, die leider bisher viel zu selten an Kulturveranstaltungen teilgenommen hat, dazu inspiriert hat, dieses in in Zukunft viel öfter zu tun! Danke auch an an Antje , für den Mut, dieses Stück auf die Bühne zu bringen! Und auch einen herzlichen Dank an all die Helfer und Spender der Flutkatastrophe 2021 in Deutschland! Ich hoffe, bald von euch allen wieder mehr zu sehen! Ihr habt mich total überzeugt!