Unter dem Eis ist alles anders, zumindest für Crystal, Hauptfigur der gleichnamigen neuen Show des Cirque du Soleil. Von den Erwartungen ihrer Familie und der Monotonie der Gesellschaft müde, sucht sie den Weg in eine kalt glitzernde Traumwelt, in der sich die Realität spiegelt und die Crystal zugleich mit ihrer Fantasie gestalten kann. Hier trifft Eiskunstlauf auf atemberaubende Akrobatik und fantastische Illusionen – und auf eine junge Frau, die zu sich selbst findet. Nun ist die Produktion für mehrere Tage in der Kölner Lanxess Arena zu sehen.
Wie vom Cirque du Soleil nicht anders zu erwarten ist „Crystal“ eine bildgewaltige Inszenierung, ein technisches und artistisches Meisterwerk auf allerhöchstem Niveau. Nicht ohne Grund gelten die
Kanadier als Goldstandard in Bezug auf Zirkusproduktionen, und nahezu jedes Mal scheinen sie die Messlatte noch ein Stück höher zu legen. Diesmal ist es vor allem das Eis, das mit gigantischen
Projektionen verwandelt wird, das innerhalb eines Augenblicks zu einer Rasenfläche mutieren kann oder zu einem Blatt Papier, auf dem Crystal ihrer Texte und Skizzen unterbringt und ihre eigene
Geschichte neu schreibt. Dazu kommen zahlreiche bewegliche Bühnenelemente sowie ein herausragendes Licht-Design, das zu Beginn der Show, als Crystal ins Eis einbricht, geradezu magisch ist. Auf
dieser Basis baut das Ensemble des Cirque du Soleil nun ihre Szenen auf: Handstand-Akrobatik inklusive eines Turms aus gestapelten Stühlen, Trapez- und Strapaten-Nummern, Jonglage, Tap-Dance und
Clownerie. Männer und Frauen springen von schwingenden Pole-Stangen, schlagen Salti und Backflips oder jagen mit Hockey-Schlägern über Rampen – und alles mit Kufen. Es zeugt von dem enormen
Können aller Beteiligten, dass all diese Bewegungen nahtlos ineinander übergehen und jeder stets einen festen Stand hat, abgesehen von einem tollpatschigen Clown, der sich zu allem Überfluss auch
noch in eine Straßenlaterne verliebt. Aber gut, Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel.
Der Schritt aufs Eis ist für den Cirque du Soleil mit seiner fast 40-jährigen Geschichte ein Novum. Und ein Wagnis. Immerhin ist Eis tückisch, nicht zuletzt wegen der hohen Geschwindigkeiten, mit
der man darüber hinweggleiten kann. Ergänzt um Sprünge und Drehungen, die selbst erfahrene Eiskunstläufer an ihre Grenzen bringen dürften und die „Crystal“ von Shows wie „Holiday On Ice“
unterscheidet, wird jede Nummer zu einer ganz besonderen Herausforderung. Bei der Köln-Premiere im offiziellen „Wohnzimmer“ der Kölner Haie lief jedoch alles glatt, saß jede Bewegung in den
ausgefeilten Choreographien perfekt. Die Coming-of-Age-Geschichte Crystals, die in mancher Hinsicht Ähnlichkeit mit „Alice im Wunderland“ aufweist, riss das Publikum mit, Musik, Licht und
Artistik sorgten immer wieder für tosenden Applaus. Als Erfolg wird die Show aber vermutlich dennoch verbucht werden: Selten war die Lanxess-Arena in der Vergangenheit so leer wie bei der
Premiere, mehr als die Hälfte der Plätze war unbesetzt. Die ansteigende Corona-Welle und die Auswirkungen der Inflation machen sich offenbar bemerkbar, und die drohenden Konsequenzen dieser
verständlichen aber dennoch traurigen Zurückhaltung dürften die Kulturszene noch lange beschäftigen. Bleibt zu hoffen, dass die folgenden Aufführungen doch noch etwas voller werden. Es lohnt sich
allemal.
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