Was ist Jazz? Improvisation? Interpretation? Oder das Überwinden von konventionellen Regeln hinsichtlich Rhythmus, Harmonie und Tonalität? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es längst nicht mehr, ist ebenso sehr Auslegungssache wie die Musik selbst. Wie weit sich der Begriff des Jazz mittlerweile spannen lässt, hat das Bonner Jazzfest beim Eröffnungsdoppelkonzert in der Oper eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Denn sowohl Florian Weber und das Dogma Chamber Orchestra als auch Thomas D und The KCBS gehen über die herkömmlichen Definitionsversuche hinaus, während sie neue Wege für die Klassik (Weber) oder den Hip Hop (Thomas D) suchen. Vielleicht ist ja schon dieses Streben Jazz. Auf jeden Fall hat es in beiden Fällen zu etwas ganz Besonderem geführt, zu aufregender, pulsierender, lebendiger Musik – und das ist allemal wichtiger als die Diskussion über Schubladen.
Sowohl Weber als auch Thomas D nähern sich dem Jazz aus unterschiedlichen Richtungen. Ersterer greift dabei auf den Barock zurück und auf Johann Sebastian Bach, dessen Musik er mit „Bach Comprovised“ neu denkt. Ein spannendes, aber auch ungewöhnliches Projekt, das im Rahmen des Jazzfests nun seine Uraufführung feierte. Im Gegensatz zu Künstlern wie Jacques Loussier, die Bach-Kompositionen mit einem Swing-Rhythmus unterlegten und ansonsten möglichst nah am Original blieben, hat Weber in den meisten Fällen nicht mehr als ein Motiv übrig gelassen und dieses immer weiter mit eigenen Ideen ergänzt. Sein Ausgangspunkt, so gesteht Weber, sei es gewesen zu überlegen, wie Bach heutzutage komponieren würde. Und so greift er auf das gesamte Portfolio an Musikstilen aus allen Epochen zurück, auf die barocke Formsprache ebenso wie auf romantische Träumereien und die Atonalität der Neuen Musik. Beim „Agnus Dei“ klettert Weber förmlich in den Flügel hinein, beim „Erbarme Dich“ aus der Matthäuspassion lässt er die Streicher flirren, und bei einem zum Quadrupelkonzert erweiterten Doppelkonzert treibt er sowohl dem Dogma Chamber Orchestra als auch Gast-Solistin und Jazz-Flötistin Anna-Lena Schnabel immer wieder in repetitive Disharmonien. „Sie erleben die Geburt einer neuen Musik“, sagt Weber stolz. Einer, die nicht immer sofort zugänglich ist und die Bach eher als Ausgangspunkt denn als Leitmotiv sieht, die aber zugleich ein Brückenschlag ist, der seinesgleichen sucht. Das Publikum ist denn auch begeistert, spendet tosenden Applaus und stehende Ovationen.
Während Florian Weber sich aus der Vergangenheit kommend in die Gegenwart vorarbeitet, gehen Thomas D und The KBCS langsamen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung. Das Jazz-Quartett, das sich ursprünglich als Begleitband des Soul-Sängers Flo Mega gründete, pflegt einen Vintage Sound irgendwo zwischen Ambient und Industrial, der durchaus unaufdringlich sein kann und den eindringlichen Werken des wahrscheinlich größten Poeten der deutschsprachigen Hip-Hop-Szene eine neue Grundierung verleiht, mitunter aber auch recht wuchtig daherkommt. Das gefällt nicht allen: In nahezu jeder Pause verlassen vereinzelte Besucher vorwiegend älteren Datums das Konzert, sehr zur Irritation von Thomas D: „Ich weiß nicht, was mich nachdenklicher macht: Dass alte Menschen auf einem meiner Konzerte sind oder dass sie gehen“, sagt er. Die große Mehrheit aber bleibt. Und jubelt. Zu Recht, denn die Texte des 54-Jährigen gehören zu dem Besten, was die hiesige Musiklandschaft zu bieten hat, und die Neuinterpretationen, die zumindest live sehr viel dichter wirken als die Aufnahmen auf den Fanta-4- und Thomas-D-Soloalben, unterstreichen dies nur noch. Erneut wird der „Reflektorfalke“, das Alter Ego von Thomas D, zum ökologischen und spirituellen Propheten, der für den Planeten Erde betet, Gott zum Zeugen beruft und schließlich in seinem Namen Vergebung gewährt, all das mit unvergleichlicher dichterischer Eloquenz und philosophischer Tiefe. Die instrumentale Dimension spielt angesichts dessen nur eine untergeordnete Rolle – immerhin darf aber Gitarrist Lars Coelln ab und zu solieren, und gegen Ende drehen The KBCS die Pegel deutlich nach oben. Zu hoch, um genau zu sein: Bei „Flüchtig“ unterdrücken Schlagzeug und Bass alle anderen Klänge und hämmern gnadenlos auf das Publikum ein. Immerhin sorgen „Liebesbrief“ und „Rückenwind“ dann noch für einen versöhnlichen Abschluss.
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