Jazzfest 2023: Harmonie und Eigensinn

Nebeneinander trifft Gegeneinander, Einheit trifft Polarität: Der zweite Abend des Jazzfests Bonn stand ganz im Zeichen des musikalischen Diskurses, wenn auch mit unterschiedlichen Ausprägungen. Während Vladyslav Sendecki und Jürgen Spiegel im VLR Landesmuseum die Harmonie des gemeinsamen Nenners fanden und daraus einen überaus lyrischen Dialog zwischen Klavier und Schlagzeug schufen, setzten Kit Downes, Petter Eldh und James Maddren (alias ENEMY) auf Gegensätzliches, auf aus dem Eigensinn geborene Kontraste, die sich gegenseitig ergänzten und doch zugleich die größtmögliche Unabhängigkeit ermöglichten. So entstanden zwei Konzerte, die melodisch, rhythmisch und dynamisch verschiedener kaum sein konnten und die doch im Grunde den gleichen Ausgangspunkt hatten – das Streben nach einem kreativen Austausch, der im besten Fall auch das Publikum ansprach. Was an diesem Abend mühelos gelang.

Dabei machten es Sendecki und Spiegel dem Publikum leicht. Die beiden Musiker zogen von der ersten Sekunde an an einem Strang, vereint durch gemeinsame prägende Erlebnisse, die sie nun in Musik transformierten. Mal ging es um Sake- und Erdbeben-Nächte in Japan, dann wieder um Spiegels Söhne („Ich glaube, ich muss renovieren – die kochen“). Sendecki, den die New Yorker Wochenzeitung „The Village Voice“ zu den fünf besten Jazzpianisten der Welt zählt, jagte mit atemberaubender Leichtigkeit über die Tasten, immer im Dienst der Melodie – und Spiegel, der ansonsten vor allem als Teil des Tingvall Trios für Furore sorgt, stand ihm in nichts nach. Sein treibendes, kraftvolles Spiel zeichnete sich durch eine wunderbar differenzierte Dynamik aus, die alle Register zog und sich doch nie in den Weiten des Jazz verlor.

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In deutlichem Gegensatz zu dem fokussierten Spiel von Sendecki und Spiegel stellten ENEMY die Individualität über die Konformität und die Freiheit über die Struktur. Alle drei gingen ihre eigenen Wege, blieben in ihrer Formensprache stur – oder ließen es zumindest so erscheinen. Denn trotz des eigenwilligen Auftretens waren Downes, Eldh und Maddren doch stets im Austausch, gaben Impulse, Ideen, Anregungen, nahmen diese auf oder setzten sich gelegentlich auch ganz bewusst davon ab. Ersterer hämmerte mit ebenso viel Verve wie Virtuosität in die Tasten, Eldh ließ seine Finger über die Bass-Saiten tanzen, und Maddren setzte mit enormer Präzision Akzente in genau jene winzigen Freiräume, die seine Trio-Partner ihm ließen. Phänomenal. Und das war nur die musikalische Ebene. Denn das Improvisationstalent des Trios ging übrigens weit darüber hinaus: Gleich zu Beginn des Konzerts verlor Bassist Eldh eine Saite, musste sie neu aufziehen, und Maddren sprang kurzerhand in die Bresche. Der Drummer erwies sich als exzellenter Entertainer und unterhielt das Publikum, bis zumindest die grobe Stimmung des Basses abgeschlossen war – das Feintuning übernahm Eldh dann im Verlauf des folgenden Stückes, so dass er bei einem längeren expressiven Solo wieder den perfekten Klang gefunden hatte. Das Publikum war denn auch restlos begeistert, nach dieser Tour de Force allerdings auch geistig erschöpft. Andererseits gehört das nun einmal zum Jazzfest dazu. Und angesichts der überragenden Leistung aller fünf Künstler ist es das allemal wert.


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