Sommerzeit ist Reggae-Zeit. Wenn die Sonne vom wolkenlosen Himmel strahlt, die Seen zum Planschen und die Schatten der Bäume zum Verweilen einladen, sind die entsprechenden Grooves nicht weit. Das Summerjam zum Beispiel lebt davon: Das Festival, eines der größten seiner Art in Europa, findet seit 1996 am Fühlinger See statt und lockt mit Reggae aus aller Welt jährlich rund 30.000 Besucher an. Doch seit einigen Jahren drängt auch der Hip Hop auf die Insel, auf der das Summerjam stattfindet.
Musik liegt in der Luft. Und der Geruch von Gras. Gehört irgendwie zusammen, wenn man an Reggae denkt, die ebenso zurückgelehnt-schleppenden Grooves und die entspannte Haltung zu Marihuana, deren Genuss für echte Rastafari einem spirituellen Ritus gleichkommt. Beim Summerjam ist beides omnipräsent, allerdings nicht aufdringlich, sondern als eine unterschwellige Note in Grün, die zwischen den wild in den Büschen aufgestellten Zelten und über dem Getümmel tausender gut gelaunter Menschen wabert. Kein Wunder: Das Wetter an diesem ersten Tag des Summerjams könnte kaum besser sein, mit strahlendem Sonnenschein und angenehmen Temperaturen. So füllt sich das Gelände zusehends, während die ersten Künstlerinnen und Künstler die Menge auf Touren bringt. Egal wie. Die Berliner Band Il Civetto lässt ihr Publikum sogar den Macarena tanzen, auch wenn das mit Reggae nicht mehr viel zu tun hat. „In den letzten Jahren haben die Veranstalter zunehmend auch andere Musikrichtungen mit einbezogen“, erklärt ein Mitarbeiter, der am Eingang zum Gelände als Ansprechpartner für alles und Jeden fungiert und lieber anonym bleiben möchte. „Dadurch rückt das Summerjam mehr in den Mainstream und wird für mehr Menschen attraktiver.“ Aber eben auch beliebiger, zumal Il Civetto nicht die Einzigen sind, die mit Reggae nur am Rande zu tun haben. Edo Saiya und Nina Chuba kommen ebenso wie der fantastische Black Sherif mit seiner rauen Stimme und seiner unterschwelligen, cthonischen Energie aus dem Hip Hop (der sich allerdings aus dem Sprechgesang der Reggae-Deejays entwickelte), während Querbeat, die total kurzfristig die verhinderte Band La Pegatina vertreten, eher im Pop beheimatet ist. So eng sieht das aber niemand am Fühlinger See – Hauptsache, die Atmosphäre stimmt, und die ist von Genre-Schubladen relativ unabhängig. Querbeat als Lokalmatadore werden natürlich begeistert gefeiert, zumal die Brasspop-Formation wie üblich aus allen Rohren feuert und – im positiven Sinne, ganz einem ihrer Lieder folgend – für „Randale und Hurra“ sorgt.
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Die gute Laune ist ansteckend. „Das Summerjam ist jedes Mal ein Erlebnis“, sagt ein Mann, der sich als Zion vorstellt und seit zehn Jahren zum Festival kommt. „Man trifft viele Bekannte und
Freunde, oder man findet neue. Ihn hier“, er deutet auf seinen Begleiter, „habe ich gestern in der Bahn kennengelernt, und heute sind wir gemeinsam unterwegs und genießen die Musik.“ Allerdings
habe sich in der vergangenen Dekade durchaus etwas verändert. „Früher ging es hier lockerer zu“, sagt Zion, „heutzutage gibt es viel zu viele Regeln und Verbote. Ich kann verstehen, warum die
Veranstalter sie aufgestellt haben, aber ich finde es trotzdem schade, dass diese Regeln notwendig sind. Eigentlich wollen wir doch alle nur eine schöne Zeit haben – und dafür müssen wir nur
anständig miteinander umgehen.“ Was in der Regel auch der Fall zu sein scheint. Das Publikum ist eher freundlich statt aggressiv, fröhlich und offen statt nur auf das eigene Vergnügen bedacht.
Das sieht auch Evan so, der mit seiner eigenwilligen Turmfrisur, einem übergroßen (und einem kleinen) Nasenring sowie seiner Gesichtsbemalung selbst in der bunten Menge auffällt. „Ich bin
inzwischen zum dritten Mal hier, zum ersten Mal mit Zelt“, sagt er und lacht. „Ich liebe es. Alle sind so nett und viele ein bisschen ausgeflippt, so wie ich.“ Für das Festival habe er sich noch
nicht mal besonders herausgeputzt. „Das ist einfach mein Stil“, sagt er.
Derweil groovt sich das Festival ein und nordet sich immer mehr auf den Reggae ein. Alborosie und Protoje gelten auf Jamaika immerhin längst als Superstars, und mit Barrington Levy oder auch der
Dancehall-Künstlerin Tanya Stephens, die allesamt am Samstag auftreten, wird diese hochkarätige Liste immer länger. Dazu gesellen sich die deutschen Sänger Jan Delay, Peter Fox und Trettmann, die
als Zugpferde dienen und auch jene ansprechen, die Reggae eher nebenher hören. Leider müssen dagegen Ky-Mani Marley (einer der Söhne von Bob Marley) sowie die aus Los Angeles kommende Band KiDi
kurzfristig absagen, was die Stimmung am zweiten Festivaltag ein wenig trübt – ebenso wie der Regen und die gesunkenen Temperaturen, die so manch offenherziges Outfit vom Vortag verhindern. Das
Publikum macht jedoch das Beste aus der Situation, indem es sich vor den beiden Bühnen auf dem Festivalgelände und in der Dancehall-Arena warm tanzt. Geht auch.
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