Wie erinnern wir uns? Was bleibt hängen von dem, was wir tun, und was fällt im Laufe der Zeit in die Tiefen des Vergessens? Was wissen wir noch von den Erlebnissen unserer Kindheit? Woran können wir uns erinnern? Und wie werden sich andere an uns erinnern? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt eines Rechercheprojekts der Regisseurin und Autorin Verena Regensburger, das jetzt auf der Werkstattbühne des Theater Bonn Premiere hatte. „Treibgut des Erinnerns“ schlägt dabei den Bogen von der Geburt bis zum Tod, konzentriert sich aber vor allem auf die Trauer und deren Aufarbeitung sowie auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit. Ein bedrückendes Thema? Ja, sicher. Aber ein wichtiges.
In ihrer Inszenierung bemüht sich Regensburger um Zurückhaltung: Sie überfrachtet das Stück nicht mit unnötigem Ballast oder überbordendem Symbolismus, verzichtet auf das ganz große Drama und
lässt die Schauspielerinnen und Schauspieler gerade dadurch glänzen. Lena Geyer, Timo Kählert und Alois Reinhardt – letzterer in rotem Rock und mit Langhaar-Perücke die auffälligste aber auch
vielseitigste Figur, optisch irgendwo zwischen „Radio Gaga“ und „Je ne regrette rien“ – erkunden die Emotionen mit großem Feingefühl, während sie sich in einem Gedächtnis- und Assoziationsraum
bewegen. Dabei bilden sie zusammen eine Einheit, sind drei Facetten der selben Person, die um einen Mann namens Martin trauert und dabei auch die eigene Identität hinterfragen. Wer definiert
einen Menschen, wenn dieser selbst nicht mehr da ist? Und wie sieht es zu Lebzeiten aus? „Vielleicht wäre in meinem Geist nur ein großes schwarzes Loch, wenn mir nicht jemand von meiner Kindheit
erzählt hätte“, sagt Geyer irgendwann. Reinhardt denkt derweil an traumatisierende Festhalte-Therapien durch das Kindermädchen – obwohl, Moment, das war ja anders. Oder doch nicht? – während
Kählert das Fehlen von echten Anekdoten im Leben seiner Rolle beklagt. Was bleibt da noch an (guten) Erinnerungen übrig?
Je größer die zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Erinnerung, desto fragwürdiger wird sie. Das ist Segen und Fluch zugleich, bedarf es doch eines gewissen Abstands, um das Geschehene
bewältigen zu können. Im Trauerfall ist dieser Moment erreicht, wenn aus dem „er ist so“ ein „er war so“ wird – das zumindest signalisiert „Treibgut des Erinnerns“. „Du überspielst die
Leerstelle“, heißt es, selbst wenn dann doch manchmal der Tisch für eine Person mehr gedeckt werde. Jener, der fehlt, verschwimmt, verliert an Kontur, an Tiefe. Das macht es erträglich. Doch
davor ist es schwer, auch wegen der Plattitüden, mit denen andere reagieren. „Herzliches Beileid“, „Mein tief empfundenes Mitgefühl“, Bla Bla Bla. „Die Gesellschaft ist nicht in der Lage, Trauer
auszuhalten“, betont Geyer im Laufe des Stücks. Zumindest dann nicht, wenn der Verlust jemanden betrifft, den man kennt. Ein Tod mit Abstand aber, den kann man verkraften. So wie den der Queen,
da waren alle betroffen. Sagten brav ihr Sätzchen auf und gingen zum nächsten Thema auf der Tagesordnung über. Soziale Verpflichtung abgehakt, weiter im Text.
Schlaglichtartig beleuchten Geyer, Kählert und Reinhardt vor einer grauen, aber durchaus wandelbaren Wand aus Aktenschränken verschiedene Sorgen und Gedanken, unterscheiden beim Gespräch mit der
Urgroßmutter, die mitten im Zweiten Weltkrieg ihr Kind zur Welt brachte, zwischen der Erinnerung aus zweiter und dem Erleben aus erster Hand, oder betrachten mögliche Parallelen zwischen Geburt
und Tod. Antworten gibt es keine, kann es keine geben. Aber Impulse, über die sich das Nachdenken lohnt. Mehr kann und weniger sollte man vom Theater nicht verlangen.
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