„216 Millionen“: Und ewig klagen die Chöre

Der Klimawandel ist wahrscheinlich die größte Herausforderung der Menschheit im 21. Jahrhundert. Die Weltbank geht davon aus, dass 2050 rund 216 Millionen Menschen infolge von Dürren, Überschwemmungen und Unwettern auf der Flucht sein werden, 216 Millionen, die ihr Glück im globalen Norden suchen werden. Dort wiederum schließt man schon jetzt die Grenzen und tritt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit Füßen. Das klagen Regisseur Volker Lösch und Autor Lothar Kittstein nun mit einer Uraufführung im Schauspiel Bonn an, die alles umfassen und diskutieren will, das Leid der halben Welt zu schultern versucht – und letztlich an der eigenen Form scheitert.

Löschs Grundproblem ist, dass er sich nicht begrenzen kann oder will. Die Klimakatastrophe soll im Zentrum von „216 Millionen“ stehen, das ist der Ausgangspunkt seines Projekts, so steht es auch im Programmheft. Doch schon zum Auftakt hält er diese thematische Einschränkung nicht ein. Vier Geflüchtete holt er auf die Bühne, um ihre Schicksale zu erzählen: Der queere Haitianer Pizzar Stanley Pierre, die mit elf Jahren im Iran zwangsverheiratete Afghanin Nadia Feyzi und ihre unterdrückte Tochter Kayci sowie Sadou Sow aus Guinea haben auf ihren jeweiligen Reisen nach Deutschland ohne Frage Schreckliches erlebt und sind in der Bundesrepublik in ein bürokratisches, monströses System gelangt, in dem sie sich ihr Bleiberecht erst erstreiten mussten. Sie alle haben auch tatsächlich von den Folgen des Klimawandels berichtet, über den etwa im Iran nicht geredet werden darf und der vielen Familien ihre Existenzgrundlage raubt. Aber mit Ausnahme von Sow ist niemand ursächlich deswegen geflüchtet. Dennoch lässt Lösch sie reden. Und reden. Und immer wieder chorisch reden, weil ihre Einzelschicksale ja angeblich für alle 216 Millionen sprechen sollen, auch wenn dadurch im Laufe von 30 Minuten jegliche authentische Emotion verpufft. Dann ein Bruch, „Waka Waka“, Auftakt zur Sonderklimafluchtspezialkonferenz. Jetzt wird es bunt, jetzt wird es wild, jetzt kommt Bewegung ins Stück. Vielleicht kriegt das Ensemble jetzt noch die Kurve.

Die nüchterne Antwort: Nein. Doch das liegt nicht an den Schauspielerinnen und Schauspielern, die die nun folgende Groteske souverän mit Leben füllen, während sie sich mit mehreren Sicherheitsleinen durch eine Gitterwand hangeln. Tatsächlich ist dieser Teil herrlich schwungvoll und karikiert zugleich die Überheblichkeit des Westens, der Profit und Wählerschutz über Menschlichkeit und Menschenrechte stellt. Natürlich sind die üblichen Zerrbilder da: der raffgierige Öl-Konzernchef, der sich als Philanthrop kleidet, indem er eine Klimakonferenz kauft; die christsoziale EU-Ratspräsidentin im AfD-blauen Anzug, die jedem Schutz verspricht, nur etwas später und am liebsten woanders; der träumende Wissenschaftler aus dem Elfenbeinturm; die Menschenrechtsanwältin, die gegen Windmühlen kämpft und dennoch glaubt, etwas bewegen zu können; die Klima- und Flüchtlingsaktivistin, die angesichts der Untätigkeit anderer zu immer extremeren Methoden greift; und der Performance-Künstler, der um jeden Preis auffallen will, auch wenn er seinen Ruhm auf den Leichen anderer aufbaut. Als diese am Ende mit einem durchdringenden Knall von der Decke fallen, scheint ein aufrüttelndes Ende gefunden, mit einem starken Bild, das mehr sagt als tausend Worte.

Doch Volker Lösch sieht das anders. Er will mehr, will parallel zu den Geflüchteten das deutsche Volk zu Wort kommen lassen, sowohl jenen Teil, der lautstark „Das ist mein Land“ brüllt, als auch den, der die westliche Kultur als fossile Kultur kleinredet und mit Slogans a la „Alle Länder sind für alle da“ auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht. So entwickelt sich eine grundsätzlich gute, wichtige Debatte – aber schon wieder muss das Ensemble als Chor agieren, und schon wieder dehnen sich die Redebeiträge wie Kaugummi. Mit der Klimakatastrophe hat all das nur noch am Rande zu tun. Ständig versagt das Stück sich selbst ein starkes Ende, ein ums andere Mal flammt die Diskussion erneut auf. Um Schicksale geht es an dieser Stelle schon längst nicht mehr, nur noch um Positionen, ums Recht haben und und ums Recht bekommen, so als säßen alle in einer großen Talkshow. Warum all das abseits einer Handlung stattfindet, bleibt ein Rätsel. Als nach insgesamt zwei Stunden ohne Pause endlich der Vorhang fällt, ist das Publikum nur noch erleichtert – und längst nicht mehr erschüttert. Was gerade für dieses inhaltlich so wichtige Stück ein enttäuschendes Ende ist.

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