"Fremd": Die Leiden eines Zerrissenen

Immer anders, immer außen, geboren auf einem Friedhof und ständig auf der Suche nach einem Leben ohne Angst im Land der Mörder: So beschreibt sich Michel Friedman in seinem autobiographisch geprägten Prosa-Gedicht „Fremd“, das Emel Aydoğdu jetzt im Rahmen der Tage des Exils erstmals auf die Werkstattbühne des Theater Bonn gebracht hat. Es ist ein Text, der bewegt und berührt, aber zugleich das Publikum fordert, ein Text voller Fragmente und Sprachspiele, voller Elipsen und vielfach aufgeladener Schlagworte, lyrisch, poetisch, eindringlich, komplex. Ein Text, der Antisemitismus beschreibt und die über Generationen erlittenen Traumata von offiziell Staatenlosen, die nicht einfach vergessen können; ein Text, der das Gefühl des Fremdseins vermitteln will und der sehr intime Gedanken offenbart, der den Schmerz einer Familie spürbar macht und dadurch die Pein eines ganzen Volkes. Kein leichter Stoff. Und doch gelingt es Julia Kathinka Philippi, Jacob Eckstein und Riccardo Ferreira, ihn erlebbar zu machen und ihn in minimalistische, aber dafür überaus starke Bilder zu übersetzen.

Den Ausgangspunkt bildet Friedmans eigene Biographie. Geboren 1956 in Paris als Kind zweier Polen jüdischen Glaubens, die nur durch die Hilfe von Oscar Schindler die Schrecken des Krakauer Ghettos und des Konzentrationslagers Auschwitz überlebten, zogen er und seine Familie 1965 in die Bundesrepublik, in das Land der Täter, in dem sie nur wenige Jahre zuvor noch millionenfach vernichtet wurden und in dem sie auch jetzt nur geduldet wurden, mit einem Stempel im Pass statt einem Stofffetzen und einer Nummer. Deutschland, so sieht es Friedman, tut sich nun einmal schwer mit dem Anderen, mit den Anderen, mit jenen, die nicht dazugehören, weil man sie nicht lässt. Ein harsches Urteil, aber auch ein verständliches. Wie soll man sich da nicht fremd fühlen, fehl am Platze? Und doch immer die Aussage, glücklich zu sein, damit die traumatisierten Eltern mit ihren traurigen Augen und der eigenen Suche nach einer Heimat nicht weinen müssen.

„Fremd“ findet nicht zum ersten Mal den Weg auf die Theaterbühne, unter anderem in Berlin und Hannover gab es bereits umjubelte Aufführungen. Dahinter muss sich die Bonner Inszenierung nicht zu verstecken. Aydoğdu überträgt den dichten Text Friedmans, angereichert um Passagen aus dessen Buch „Judenhass“, mit viel Feingefühl ins Theater. Philippi, Eckstein und Ferreira harmonieren hervorragend miteinander, lassen den Text atmen, empfinden die Demütigungen, die Zerrissenheit und die Einsamkeit des Erzählers nach und werden auch den Eltern gerecht. Brillant zudem die Musik, die Yotam Schlezinger live einspielt und die von hebräischen Volksliedern bis zu einem ekstatischen Klanggewitter reicht, die den Kopf für ein paar Augenblicke entlasten, bevor es wieder hineingeht in die Zerrissenheit eines Menschen, der stellvertretend für viele Ausgegrenzte steht. Insofern ist der Text nicht nur Vergangenheits-, sondern auch Gegenwartsbewältigung, eine autobiographische Aufarbeitung ebenso wie ein Plädoyer für das Erinnern – und für eine offene Gesellschaft, die das Fremde, den Fremden, die Fremden akzeptiert. So viel Utopie muss erlaubt sein.

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