
Ach ja, früher. Damals war die Welt noch in Ordnung, heißt es. Sicherer, stabiler oder zumindest vorhersagbarer. Heutzutage ist ein Skript ja schon obsolet, während es noch aus dem Drucker kommt, weil irgendein Politiker mal wieder irgendeine Kehrtwende hingelegt oder irgendein ein Wissenschaftler irgendwas Neues erfunden hat. Da kommt doch keiner mehr mit, selbst das Ensemble des Kabarett-Theaters Distel nicht. Und das will was heißen, immerhin hat es in der mehr als 70-jährigen Geschichte des Hauses immer wieder den Zeitgeist zu fassen und zu kommentieren gewusst. Und jetzt? Ist jeder Abend eine Leseprobe. So auch im ausverkauften Haus der Springmaus, in dem sich die Distelianer in die 90er zurücksehnen – und trotzdem die Gegenwart karikieren.
Das Format kommt dem Ensemble in diesem besonderen Fall sehr gelegen: Aufgrund einer kurzfristigen Erkrankung Nancy Spillers muss unvermittelt ihre Kollegin Caroline Lux einspringen, um an der Seite von Stefan Martin Müller und Frank Voigtmann sowie den beiden Musikern Matthias Felix Lauschus und Fred Symann „Wer hat an der Welt gedreht“ zu retten, und da fügt es sich gut, dass sie mit dem Textbuch in der Hand nicht fehl am Platze wirkt. Zusammen mit ihrem schauspielerischen Talent fällt so zum Glück kaum auf, dass Lux die Sammlung an Sketchen, die im Grunde jede Distel-Produktion ausmachen, noch nie zuvor gespielt hat. Besonders gut macht sie sich als Karl Lauterbach, der endlich mal mit der Corona-Pandemie abrechnet, im Grunde aber gewohnt nichtssagend bleibt. Oder Fakten zu relativieren versucht. Ja, rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen hatten während der Lockdowns Probleme mit dem digitalen Unterricht, aber das muss man doch in Relation sehen – bei den Lehrkräften waren es sogar 80 Prozent! Das sind die wahren Opfer! Das wird man ja wohl mal sagen dürfen.
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Ohnehin ist die Meinungsfreiheit ein mehrfach thematisiertes Gut. Die gilt natürlich, keine Frage, aber trotzdem sollte man sich gut überlegen, was man sagt, um sich keinen Shitstorm von allerlei Beleidigten und Betroffenen zuzuziehen. Das gilt auch für den Humor. Während man früher durchaus Witze über die Hautfarbe von Roy Black und Roberto Blanco wundern konnte, gelten diese heutzutage als rassistisch, ebenso wie das Spiel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“. Dass letzteres gar nichts mit Afrikanern und sehr viel mit den geschwärzten Gesichtern nächtlich umherziehender Gauner zu tun hat, spielt dabei keine Rolle. Man kann es rassistisch verstehen, und dann ist es auch rassistisch, und damit basta. Befindlichkeiten gestalten eben die Realität, und die Geschichte ist als Lernstoff ohnehin überbewertet. „Wir müssen differenzieren“, betont Caroline Lux, „aber eben in die richtige Richtung“. Auch das wird man ja wohl mal sagen dürfen. Und während die Satire auf dem Prüfstand steht, kommentieren AfD-Sympathisanten und Corona-Leugner en masse in den sozialen Medien die vermeintlichen Entgleisungen der Distel. Einige Kommentare lesen Lux, Müller und Voigtmann auf der Bühne unterm Smilie-Mond vor, und die sind leider alles andere als witzig. Sondern ziemlich traurig.
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Im Gegensatz zu „Die Hinterzimmer der Macht“, mit dem das Distel-Ensemble im vergangenen Jahr zu Gast in der Springmaus war, verzichten die Kabarettisten bei „Wer hat an der Welt gedreht“ weitgehend auf eine inhaltliche Rahmung – selbst die Leseprobe ist nur ein Einstieg, aber kein roter Faden. Das ist nicht weiter tragisch, denn die einzelnen Sketche funktionieren auch so, erliegen allerdings hinsichtlich Stil, Intention und Humor beträchtlichen Schwankungen. Mal erklärt das Trio, dass Elektro-Autos aufgrund der Stromproduktion in Kohlekraftwerken und der CO2-intensiven Förderung von Lithium nicht ökologisch ist (was nur zum Teil stimmt), dann wieder tanzt Voigtmann zum Ward-Brothers-Schlagerklassiker „Willi Klein mit dem dritten Bein“ über die Bühne. Dann wieder hinterfragen die Drei nach der europäischen Identität, verweisen auf den Kleidungs-Wohlstand auf Kosten der Kinder in Bangladesch oder suchen nach Belegen für die These, dass Björn Höcke in Wahrheit eine Frau ist. Das soll allerdings nicht heißen, dass die Distel nur dann überzeugen kann, wenn sie sich politisch äußert: Eine der besten Szenen ist das Solo von Stefan Martin Müller über Sex im Alter, herrlich pointiert, mit perfektem Timing und zu keinem Zeitpunkt unter der Gürtellinie. Und auch wenn nicht jeder Sketch dieses Niveau erreicht, lässt sich doch zumindest nicht bestreiten, dass „Wer hat an der Welt gedreht“ für einen überaus vielseitigen Abend sorgt, der beim Publikum hervorragend ankommt.
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