"Vespertine": Ein experimenteller Fiebertraum

Dieser Abend endet mit einem Fragezeichen. Nein, eigentlich mit mehreren. Was ist hier im Schauspiel Bad Godesberg gerade passiert? Was für Visionen und Fantasien sind der eisigen Schneelandschaft auf der Bühne entsprungen, in denen Zeit und Kausalität aufgehoben schien und jegliche Stringenz zerstückelt wurde? Will, kann und muss man das eigentlich wissen? War das noch Kunst oder kann das schon weg? Und vor allem: Was hat das alles eigentlich noch mit Björk zu tun? Fragen über Fragen, die sich aus der Opern-Inszenierung des Pop-Albums „Vespertine“ ergeben, jenem introvertierten und nicht unumstrittenen Meisterwerk der isländischen Avantgarde-Sängerin, das das Kollektiv Himmelfahrt Scores schon 2018 für das Nationaltheater Mannheim arrangiert hat. Jetzt übernimmt das Kommando Himmelfahrt (bestehend aus dem Regisseur Thomas Fiedler, der Dramaturgin Julia Warnemünde und dem Komponisten Jan Dvořák) am Schauspiel Bonn auch die Regie und zeigt dabei eindrucksvoll das Potenzial von Kunst auf. Und die Grenzen der Oper.

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QUATSCH KEINE OPER präsentiert



Wer an diesem Abend eine zumindest ansatzweise nachvollziehbare Handlung erwartet, dürfte ebenso enttäuscht werden wie Fans von Björk, die auf eine möglichst originalgetreue Reproduktion der Platte von 2001 hoffen. Zugegeben, die Noten stimmen – die Stimmung aber nicht. Was weniger an den Künstlerinnen und Künstlern auf der schlichten Bühne als vielmehr an dem Irrglauben liegt, den eigenwilligen, energiegeladenen und doch oft fragil erscheinenden Gesang Björks auch nur ansatzweise in die Welt der Oper übertragen zu können; dem stehen die Stimmtechniken und Stilistiken der klassischen Musik im Weg. Das Resultat wirkt dadurch noch künstlicher als das Original, ironischerweise obwohl parallel zum geänderten Gesangsstil das Instrumentarium in eine rein akustische Form übersetzt wurde. Dafür greift das Ensemble Musikfabrik, einer der führenden Klangkörper der zeitgenössischen Musik, unter der Leitung des Bonner Kapellmeisters und designiertem Erfurter Generalmusikdirektors Hermes Helfricht unter anderem auf Butterbrotpapier oder auf Walnüsse zurück. Björk hätte dieser innovative Ansatz sicherlich gefallen; dennoch ist die Transformation gewöhnungsbedürftig und liefert letztlich einen Sound, der längst nicht so direkt ist wie der auf dem Album. Dabei ist das Spiel des Ensembles an sich exquisit, was insbesondere in den volltönenden Chor-Passagen deutlich wird. In den leisen, ätherischen Momenten dominieren dagegen oft die trällernden Soprane. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Inhaltlich bleibt „Vespertine“ trotz der zusätzlichen Bildebene abstrakt, in weiten Teilen sogar dadaistisch. Björks Verse waren schon immer enigmatisch, eher assoziativ denn konkret und bar jeder eindeutigen Lesbarkeit. Ausgangspunkt der Inszenierung ist eine abgelegene Forschungsstation im ewigen Eis, in der eine Wissenschaftlerin (Nicole Wacker) und eine schattenhafte Doppelgängerin (Ava Gesell) die – real existierende – Chronic Wasting Disease oder auch „Zombie-Hirsch-Krankheit“ und ihre mögliche Übertragbarkeit auf den Menschen untersuchen. Die Einsamkeit der Polarnacht fordert dabei einen Tribut aus Fieberträumen: Auf einmal taucht ein Kind auf (mit schwacher Intonation gesungen von Karl Kristiansen), später dann ein Mensch-Hirsch-Hybrid (gesungen von Carl Rumstadt mit schönem Bariton), der möglicherweise der Vater sein könnte. Oder handelt es sich doch um eine unbefleckte Empfängnis? Der keltische Naturgott Cernunnos schwingt hier ebenso mit wie der Marienglaube, heidnische Poesie („Pagan Poetry“), und befleckte Seelen-Echos. Konkret wird die Aufführung dabei nie, bleibt konsequent eine Phantasmagorie. Auf diesen großen Assoziationsrahmen muss man sich erst einmal einlassen. Andererseits ist es heutzutage eine Seltenheit, dass das Publikum nach 90 Minuten derart im luftleeren Raum gelassen wird und es sich selbst mit Interpretationen – oder einem freiwilligen Verzicht auf selbige – behelfen muss, was angesichts stehender Ovationen bei der Premiere offenbar vielen Besucherinnen und Besuchern des Schauspiels gelang. Auch so etwas kann, darf und soll Theater ermöglichen, und zumindest dieser Ansatz dürfte ganz im Sinne von Björk sein. Was „Vespertine“ sein will? Das muss jeder für sich selbst beantworten. Vielleicht einfach nur ein Rätsel. Oder ein Fragezeichen.


Termine

8.4., 19.30 Uhr; 20.4., 18 Uhr; 10.5., 19.30 Uhr; 23.5., 19.30 Uhr; 25.5., 18 Uhr; 29.5., 18 Uhr. Tickets erhalten Sie bei allen bekannten Vorverkaufsstellen.


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